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Die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur erzählt von Begegnungen mit Sterben und Tod
Eines Tages, es war am Anfang des ersten Corona-Lockdowns, klingelte bei der französischen Rabbinerin Delphine Horvilleur das Telefon. Es war eine Familie, die ohne jede Begleitung am Grab des Vaters stand und kein einziges der Gebete kannte, die traditionell gesprochen werden. Also sagte Horvilleur die Worte vor, die die Familie am anderen Ende der Leitung laut wiederholte. Für Horvilleur war dies ein einschneidendes Erlebnis. Denn Trauernde zu begleiten und Bestattungen vorzunehmen, nennt sie das "Herzstück" ihrer Arbeit, und genau dorthin trafen die rigorosen Kontaktbeschränkungen in der Pandemie. Aus dieser Erschütterung entstand ein facettenreicher und trotz des Themas stellenweise fast heiterer Essay, der im vorigen Jahr zu einem der meistverkauften Titel auf dem französischen Buchmarkt wurde. Horvilleur berichtet darin in elf Kapiteln von ihren Begegnungen mit Sterben und Tod, die sich nicht nur aus ihrer Praxis als Rabbinerin speisen, sondern zurückgehen auf ihre eigene Kindheit, und die ihre Erkenntnisse aus einem früheren Medizinstudium ebenso aufgreifen wie prägende politische Ereignisse.
"Mit den Toten leben" heißt im französischen Original im Untertitel "eine kleine Abhandlung über den Trost", doch ist das Buch das exakte Gegenteil von einem Trostbüchlein mit fertigen Sentenzen oder Lebensweisheiten. Horvilleur ist als eine der wenigen französischen Rabbinerinnen eine Galionsfigur des liberalen französischen Judentums, die sich vernehmlich in gesellschaftliche Debatten um Antisemitismus einmischt - so in ihren "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus", die vor zwei Jahren auch in Deutschland ein großer Erfolg wurden. Doch sie tut dies nicht lautstark, sondern ausgestattet mit einer feinen Beobachtungsgabe, mit großer Formulierungskunst und als profunde Kennerin der jüdischen Tradition und der talmudischen Überlieferung.
Nicht zuletzt ist der Essay eine Reflexion über Horvilleurs eigene Rolle als Rabbinerin. Den Anspruch von Gläubigen, dass eine Rabbinerin in den Fragen nach den letzten Dingen Gewissheiten bereit halten müsse, weist sie deutlich zurück: Auch sie habe nicht mehr Antworten parat als alle anderen, allenfalls mehr und andere Fragen. Die Tora, so erläutert sie in einem exegetischen Exkurs, kennt keine Auferstehung, kein Paradies und keine Hölle. Vorstellungen über ein Leben nach dem Tod tauchten erst später auf, in der Literatur der Propheten und den talmudischen Interpretationen, zu einer Zeit, als die Israeliten im Exil lebten und sich, wie Horvilleur es nennt, nach einer politischen Auferstehung sehnten. Aus einer Vielzahl von eschatologischen Einflüssen, die in der Antike innerhalb des Judentums aufeinandertrafen, entwickelten sich konträre Vorstellungen über ein Leben nach dem Tod. Horvilleur gibt keiner von ihnen den Vorzug: Ihrer Ansicht nach sind sie alle Schichten einer Überlieferung, die über- und nebeneinander existieren. Die Aufgabe kann nur darin bestehen, diese immer wieder in neuen Zusammenhängen zu erschließen und damit an das Band der Tradition anzuknüpfen.
Wie prekär dieses Anknüpfen sein kann, wird deutlich im Fall der Überlebenden der Schoah, deren letzte nach und nach sterben. Horvilleur berichtet anonym von einer "Sarah", die sicher für viele andere steht, deren Familien nicht einmal das richtige Geburtsdatum kennen und in denen über das während der Verfolgung Erlebte geschwiegen wurde. Aber sie erzählt auch von den "Mädchen von Birkenau", Simone Veil und ihrer unkonventionellen Freundin, der Filmemacherin Marceline Loridan-Ivens. Bei Veils Begräbnis sagte Horvilleur gemeinsam mit dem französischen Oberrabbiner das Kaddisch, worüber sich orthodoxe Juden umgehend empörten. Horvilleur sieht darin fast amüsiert eine feministische Geste Veils sozusagen von jenseits des Grabes.
So liegen persönliches Erleben und Politik bei Horvilleur nie weit auseinander. Zu den bewegendsten Momenten in ihrem Leben gehört die Ermordung von Jitzhak Rabin 1995 nach einer Kundgebung in Tel Aviv, an der sie selbst teilgenommen hatte. Zwanzig Jahre später sollte sie die Trauerfeier für Elsa Cayat vornehmen, die Psychoanalytikerin, die für ihre Kolumne in "Charlie Hebdo" bekannt war und beim Attentat auf die Zeitungsredaktion ermordet wurde. Die Spur der Gewalt reicht bis in die unmittelbare Gegenwart. Das Buch schließt mit Erinnerungen an Horvilleurs Onkel Edgar, der auf dem jüdischen Friedhof im elsässischen Westhoffen beerdigt ist. Als dort vor wenigen Jahren Gräber geschändet wurden, reiste sie an den Ort, aus dem ein Teil ihrer Familie stammt. Was sie am Grab ihres Onkels empfindet, benennt sie mit dem Neologismus Solastalgie: das Gefühl von Verlust an einem Ort, von dem man weiß, dass er in seiner Existenz bedroht ist.
Horvilleur reagiert indes nicht mit Resignation. Sie berichtet, wie sie einmal mit den Worten vorgestellt wurde: "Das ist unsere Rabbinerin. Aber keine Sorge, eine laizistische Rabbinerin." Nach einem Moment der Überraschung findet sie, dass der Titel eigentlich ganz gut zu ihr passt. Denn laizistische Rabbinerin zu sein bedeutet, so überlegt sie, von einer Welt auszugehen, in die Gott nicht eingreift und in der die Menschen auf sich gestellt sind. Wie der Lyriker Jacques Prévert einmal schrieb, den sie an dieser Stelle zitiert: "Vater unser, der du bist im Himmel / Bleib dort / und wir werden auf der Erde bleiben / Die mitunter so herrlich ist". SONJA ASAL
Delphine Horvilleur: "Mit den Toten leben".
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2022. 192 S., geb., 22,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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