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Ist so viel Reklame: Der deutschjüdische Germanist Richard M. Meyer zwischen Wilhelminismus und Moderne
"Ein Jude kann in der That nur eine Kritik, keine Geschichte der deutschen Litteratur liefern, denn er weiß ja nicht, was uns notwendig war und ist, er kann die Sprödigkeit und Widerspenstigkeit des ihm von Natur fremden Stoffes immer nur bis zu einem gewissen Grade überwinden." - Mit diesen Sätzen suchte der Literaturhistoriker Adolf Bartels Richard M. Meyers "Die deutsche Literatur des Neunzehnten Jahrhunderts", die im November 1899 im Berliner Bondi Verlag erschienen war, im Geiste des Antisemiten Heinrich von Treitschke als Ausdruck einer vermeintlich unüberwindlichen Volksfremdheit des jüdischen Gelehrten zu disqualifizieren.
Meyer war indessen, gleich vielen jüdischen Akademikern im Wilhelminischen Kaiserreich, selbst ein überzeugter Deutschnationaler. Seine Forschungsgegenstände und sein Literaturgeschmack wiesen ihn als zuverlässigen Pfleger deutscher Hochkultur aus. Meyers akademischer Lehrer war Wilhelm Scherer, Begründer der positivistischen Literaturwissenschaft, den er ein Leben lang verehrte und dessen "Poetik" er 1888 postum herausgegeben hat. Meyer begann als Altgermanist, machte sich mit einer 1895 erschienenen Goethe-Biographie als Kenner der Weimarer Klassik einen Namen und widmete sich in seinem späten Werk - er starb 1914 im Alter von nur vierundfünfzig Jahren - verstärkt solchen Vertretern der literarischen Moderne, die ihm als beispielhafte "große Deutsche" erschienen, vor allem Gerhart Hauptmann und Friedrich Nietzsche, aber auch Stefan George, dessen Lyrik er früh in ihrer Avanciertheit erkannte.
Weil er seiner Identifikation mit dem Kaiserreich zum Trotz nicht zum Christentum konvertieren wollte, sondern darauf bestand, dass sein Judentum und sein Deutschtum miteinander vereinbar seien, wurde er zur Zielscheibe antisemitischer Anwürfe, erhielt nie eine Professur und war gezwungen, den Großteil seiner Arbeiten in Journalen und Wochenzeitungen unterzubringen.
Den meisten Schriften Meyers, über die ein von Nils Fiebig herausgegebener Band nun einen Überblick gewährt, ist dieser Zwiespalt anzumerken. Sie folgen dem literarischen Kanon des Wilhelminismus, doch die Perspektive, aus der sie sich ihren jeweiligen Gegenständen nähern, ist eine genuin moderne. Der Essay "Goethe in Venedig" von 1897 nimmt seinen Ausgang in der Beobachtung, dass der in der Erfahrungswelt des Weimarer Hofes beheimatete Dichter die Stadt "zu künstlich, zu mittelalterlich - und zu großstädtisch" gefunden und in ihrer "Wunderschöpfung" die Zurichtung der historischen Fassaden für den touristischen Blick ausgemacht habe: "Er misstraut dem Ganzen wie einer dem Fremden vorgespielten Opernszene."
Die Diagnose, dass Goethe den "Zauber der Großstadt", der in dieser Transformation des Historischen zum Ästhetischen besteht, "nie anerkannt" habe, bildet bei Meyer jedoch nicht den Auftakt zu einer Deutung des Venedig-Motivs etwa in den Werken von Thomas Mann oder Hugo von Hofmannsthal, in denen jene Ästhetisierung des Historischen zur Geltung kommt, sondern führt zurück nach Weimar als Goethes "behagliches, vor allen Stürmen geschütztes Heim".
Auch der 1902 veröffentlichte Text "Großstadtpoesie" entwirft, anders als seine Entstehungszeit vermuten lässt, kein Panorama der Großstadt etwa in den Werken von Arthur Schnitzler, Rainer Maria Rilke oder im Naturalismus, sondern skizziert eine Kulturgeschichte der antiken und der biblischen Stadt, um das "neue Wort" anhand bereits historischer Texte wie Goethes "Faust", Franz Grillparzers "Der arme Spielmann" und der Romane Wilhelm Raabes zu entfalten. Auch der Essay über Gerhart Hauptmann aus dem Jahr 1912 stellt diesen weniger als Mitbegründer der Moderne im Schwanken zwischen Naturalismus und Ästhetizismus denn als über viele Umwege zum Klassizisten gereiften Nationaldichter dar.
Am interessantesten sind Meyers Texte dort, wo die Konfrontation von Traditionalismus und Moderne einen neuen Blick auf zeitgenössische Erfahrungen ermöglicht. Der 1902 publizierte Text "Zur Terminologie der Reklame" - eher Synopsis denn ausgearbeitete Abhandlung - bietet eine linguistische Analyse von "Namen aller möglichen mit Reklame angekündigten ,Artikel'" und demonstriert die Fruchtbarkeit der sprachwissenschaftlichen Methode für das Verständnis massenkultureller Phänomene. Welche Bedeutung bei der Entstehung von Produktnamen wie Odol und Numinol, Gustin und Vanillin, Kolibri und Gladiator Klangvalenz, Reimbarkeit und Metaphorizität haben, zieht Meyer in Erwägung, ohne bereits erschöpfende Antworten zu liefern.
Die Reklameanalyse, eine der frühesten Beispiele ihrer Art, veranschaulicht besonders deutlich, wovon auch die übrigen Texte zeugen. Meyer hat sich mit dem die Kultursphäre umgreifenden Markt, den er wegen seines Ausschlusses aus dem Wissenschaftsbetrieb selbst zu beliefern gezwungen war, immer auch in seinen Texten auseinandergesetzt.
Nur selten wird dieser Zusammenhang direkt zum Thema gemacht, meist wird er nur angedeutet, etwa wenn in einem Aufsatz über den "Struwwelpeter" die Bedeutung der Reinlichkeit im Buch zum Anlass für einen geschichtlichen Exkurs über Industrialisierung und Hygiene genommen wird oder ein Artikel über "Universität und Literatur" die zunehmend marktförmige Ordnung der Geisteswissenschaften anhand der Beschreibung eines spezifischen "Stils" der Berliner Universität illustriert.
Zweifellos war Meyer kein bedeutender Theoretiker; sein Denken verbleibt im Umkreis der empirischen Schule Wilhelm Scherers, sein Begriff der Geisteswissenschaft verdankt sich noch immer weitgehend Dilthey. Doch wo er sich ohne Vorbehalt auf Phänomene der damaligen Gegenwart einlässt, gelingen ihm kultursoziologische Einsichten, die ihn Georg Simmel und Werner Sombart annähern.
MAGNUS KLAUE
Richard M. Meyer: "Moral und Methode". Essays, Vorträge und Aphorismen. Hrsg. von Nils Fiebig. Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 320 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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