Bis in die 1970er Jahre standen Publikationen zur NS-Forschung im Vordergrund, beispielsweise "Hitlers zweites Buch" (Band 7), Hitlers "Sämtliche Aufzeichnungen 1905-1924" (Band 21) oder Dokumente zu "Hitlers Lagebesprechungen" von 1942 bis 1945 (Band 10). Wichtige Materialien zur Täterforschung boten beispielsweise die autobiographischen Aufzeichnungen des "Auschwitz-Kommandanten" Rudolf Höss (Band 5), das "Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen" (Band 20), das einschlägige Werk über "Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands" (Band 13) sowie über die "Einsatzgruppen" der Sicherheitspolizei und des SD von 1938 bis 1942 (Band 22). In den "Quellen und Darstellungen" erschien die erste wissenschaftlich umfassende Arbeit über "Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus" (Band 33). In jüngster Zeit sind exemplarisch hervorzuheben die bahnbrechenden Arbeiten aus dem so genannten Wehrmachtsprojekt, beispielsweise über "Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42" (Band 66) sowie die "Wehrmacht im Ostkrieg" (Band 75), mit denen die Forschung auf ein neues, international weithin beachtetes Reflexionsniveau gestellt ist. Darüber hinaus erscheinen seit den 1970er Jahren wegweisende Publikationen zum Wandlungsprozess von der NS-Diktatur zur Nachkriegszeit, beispielsweise "Von Stalingrad zur Währungsreform" (Band 26) und das "OMGUS-Handbuch" über die "amerikanische Militärregierung in Deutschland 1945-1949" (Band 35).
In jüngster Zeit reflektieren die Publikationen die Weiterentwicklung der jüngsten Zeitgeschichte sowie die historischen Transformationsprozesse seit den 1970er Jahren und unterstreichen die wegweisende Rolle des Instituts in der internationalen Forschungsentwicklung.
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Wirtschaftskooperation und Nationalitätenkonflikt in der CSR
Christoph Boyer: Nationale Kontrahenten oder Partner? Studien zu den Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in der Wirtschaft der CSR (1918-1938). Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Band 42. R. Oldenbourg Verlag, München 1999. 441 Seiten, 128,- Mark.
Die tschechischen Unterhändler auf der Pariser Friedenskonferenz überzeugten 1919 die großen vier davon, daß die Tschechoslowakei ohne Deutschböhmen nicht lebensfähig sei. Wirtschaftliche Argumente standen dabei im Vordergrund. Eine Trennung vom tschechoslowakischen Staatsverband hätte sich auch für die dortige Industrie unvorteilhaft ausgewirkt. Bei einer Autonomie Deutschböhmens, einer Angliederung an das Deutsche Reich oder an Österreich wären durch neu aufgerichtete Zollschranken wichtige Absatzmärkte verlorengegangen. Wirtschaftliche Vernunft und nationalistische Gefühle stimmten also nicht überein.
Zwischen diesen Polen schwankte das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen in der Wirtschaft der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Christoph Boyer spricht von "Beziehungen". Dabei geht es ihm weder um Außenhandel noch um Außenpolitik, sondern um das Ringen der beiden Volksgruppen in Wirtschaftsorganisationen und Industrieunternehmen.
Dahinter steht die Idee des "praktischen Bilateralismus" (Ludolf Herbst). Theoretisch bleibt sie unterbelichtet, ihre Anwendbarkeit aufs Ganze gesehen zweifelhaft. Plausibel wirkt sie nur im ersten Teil des Buches. Denn von "Beziehungen" zu sprechen leuchtet da unmittelbar ein, wo die Bedingungen zu freien Organisationsgründungen im tschechischen Vereinsrecht gegeben waren, also kein Organisationszwang herrschte. Das trifft auf die großen Wirtschaftsverbände zu.
Der "Zentralverband der tschechoslowakischen Industriellen", noch vor dem Ende der Habsburger-Doppelmonarchie gegründet, erklärte sich zum alleinigen Repräsentanten der tschechoslowakischen Industrie. Mit Verzögerung reagierte die Wirtschaft in Deutschböhmen darauf mit Gründung des "Deutschen Hauptverbands der Industrie" (DHI). Die beiden Verbände teilten sich also nach Nationalitäten auf - sieht man von wenigen deutschen Industriellen ab, die beiden angehörten. Ein langer Prozeß argwöhnischer Annäherung führte 1928 dazu, daß der DHI dem Zentralverband beitrat, freilich ohne seine Existenz und Unabhängigkeit völlig aufzugeben.
Damit war ein Kurs organisatorischer Zusammenarbeit eingeschlagen, der keineswegs nur der relativen wirtschaftlichen Prosperität der CSR zu verdanken war. Auch die schweren Jahre der Weltwirtschaftskrise und der Aufstieg Konrad Henleins und seiner Sudetendeutschen Partei Anfang der dreißiger Jahre konnten daran zunächst nichts ändern. Der politische Druck auf den DHI wurde erst durch den "Anschluß" Österreichs entscheidend verstärkt, weil nun die von den Deutschen getragene Exportwirtschaft der Tschechoslowakei in völlige Abhängigkeit vom Reich Adolf Hitlers geraten war.
Das "geistige Band" der Studien Boyers ist der Nationalitätenkonflikt. Das Bilateralismus-Konzept hingegen läßt sich auf die Handels- und Gewerbekammern nicht überzeugend anwenden. Hier handelte es sich nicht um private Vereinigungen, sondern um öffentlich-rechtliche Körperschaften. Das Handelsministerium ernannte die Kommissionsmitglieder. Deutsche und Tschechen konnten sich hier nicht getrennt organisieren. Folglich sind "Beziehungen" hier schwer greifbar. Das gilt auch für die im zweiten Teil untersuchten Industrieunternehmen und ihre Belegschaften. Hier kommt Boyer zu wichtigen Ergebnissen, die die bisherige Sicht relativieren, daß die Wirtschaft vom nationalitätenpolitischen Antagonismus bestimmt gewesen sei.
Der wachsende Anteil der Tschechen in den Kammern läßt sich offenbar nicht einfach auf tschechische Volkstumspolitik zurückführen. Bei der Formulierung dieser Einsicht bedient sich Boyer unnötigerweise der etwas kruden zeitgenössischen Ausdrucksweise, wenn er von einer ",Begünstigung' des tschechischen Elements" spricht und fortfährt: "Die Wurzel des Übels" sei "nicht tschechische Ranküne, sondern die gewachsene politische Struktur" gewesen: Durch Ernennung statt Wahl der Mitglieder seien "Erbhöfe und Pfründen" entstanden, habe sich rund um die Ernennung ein "Intrigensumpf" gebildet, was auch auf tschechischer Seite Kritik hervorrief. Ähnliche Relativierungen ergeben sich im Blick auf die Industriebetriebe. Um nur ein Beispiel zu nennen: Tschechische Kapitalbeteiligung an deutschen Unternehmen reduzierte das Interesse an einer "Tschechisierung" der Belegschaften und des Managements.
Die "Lehre" ist ebenso einleuchtend wie schlicht: Gemeinsame wirtschaftliche Interessen, die sich aus der ökonomischen Verflechtung ergaben, zwangen vielfach über nationale Ressentiments hinweg zu gemeinsamem Handeln. Zwar spielte die Nationalitätenpolitik der Parteien auch in der Wirtschaft eine erhebliche Rolle und führte nicht selten zu "paranoider" Verkennung der Umstände (nicht jede "antideutsch" wirkende Maßnahme war als solche gedacht). Aber das ist nur die eine Seite. Die andere - und damit auch das zweite "Leitmotiv" Boyers - besteht in der pragmatischen Wirtschaftkooperation. Hier deckt er eine "List der Vernunft" auf - eigentlich eine Überlistung nationalistischer Gegensätze durch ökonomische Interessen.
Die Antwort auf die im Buchtitel gestellte Frage lautet also: "sowohl als auch". Tschechen und Deutsche waren in der Wirtschaft der CSR vielfach nationale Kontrahenten und zugleich Partner. Unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten läuft die Geschichte der Ersten Tschechoslowakischen Republik somit alles andere als notwendig auf die "Lösung" des Münchner Abkommens von 1938 zu. Das ist das wichtige und zu weiteren Forschungen anregende Ergebnis dieser Studien.
FRANZ MAUELSHAGEN
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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