Ein polarisierendes Buch
Die „Personen und Handlungen dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern
unvermeidlich.“ (Heinrich Böll, Die verlorene Ehre der Katharina Blum)
Der Erzähler, selber…mehrEin polarisierendes Buch
Die „Personen und Handlungen dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.“ (Heinrich Böll, Die verlorene Ehre der Katharina Blum)
Der Erzähler, selber Künstler und Autor, ist seit vielen Jahren der beste Freund des Chefredakteurs eines bekannten deutschen Senders und er hadert sehr mit den Machenschaften dieses Senders, der vor allem durch laute, reißerische Nachrichten auffällt. Sie machen sich zur Stimme Deutschlands. (WIR!) Dieser Fernsehsender vermarktet hemmungslos jede Nachricht, Hauptsache sie verkauft sich. Die öffentlich bloß gestellte Ehefrau eines bekannten Fußballers nimmt sich das Leben, nachdem ihr Privatleben seziert wurde.
Er erfährt jedoch auch, dass es dort zu sexueller Belästigung von Frauen durch den stellvertretenden Chefredakteur kommt und informiert seinen Freund darüber. Dieser sagt ihm zu, dass er das selbstverständlich ernsthaft verfolgen werde.
In einer Sucht-Selbsthilfegruppe trifft er mit Sophia zusammen, die bei dem Sender arbeitet und mit dem stellvertretenden Chefredakteur eine „Beziehung“ hatte. Sie schildert ihm einige Details.
Der Erzähler, der viel Zeit in einer hippen Gruppe in Hollywood am Pool des berühmten Château Marmont, Hollywoods Kulthotel, verbringt, erfährt von Rose, dass sie ebenso sexuellen Übergriffen ausgesetzt war. Und auch ihre Freundin „Baseballs“, die in der Redaktion des Senders gearbeitet hatte, werde bald in die Öffentlichkeit treten. Dafür bittet sie um seine Unterstützung.
In den USA wird der Skandal zum Harvey Weinstein öffentlich und Rose ist eine der ersten, die ihre Geschichte erzählt.
Und in Berlin rühren sich die Frauen in der Redaktion. Sophia und der Erzähler sammeln die Informationen der Betroffenen. Die Berichte der Frauen sind erschreckend. Die Frage, ob und wie die Öffentlichkeit informiert wird, ist kompliziert. Die Frauen befürchten vor allem berufliche Nachteile sowie Verleumdungen: „Dann müssen die Frauen sich auch nicht wundern.“
Man einigt sich auf ein Compliance-Verfahren, am Ende bleibt der Täter, der Chefredakteur, zwar ein bisschen angeschlagen, weiter in seiner Position.
Der Erzähler zieht den Leser in seinen Sog. Er bestimmt die Sichtweise, auch wenn er das ja eigentlich nicht will. „… und ich mag dieses Gefühl überhaupt nicht. Moralisch im Recht zu sein oder sich auch nur zu wähnen macht so dumm, das ist immer das Problem.“
Die Stimmen der Frauen rütteln auf. Sie bekommen nächtliche Nachrichten. „Noch wach? Scheiß klimanalage-komm und wärm mich-starke vermissung- bin da-köroer an körper jetzt-wo du“ (Anm.: Originalzitat, da es sich um eine „Kurznachricht“ per Telefon handelt) oder werden aufgefordert ihn sofort (nachts) zu treffen. Wenn sie seine Bedürfnisse nicht erfüllen, werden sie „abgelöst“ und öffentlich bloßgestellt.
Benjamin von Stuckrad-Barre beherrscht die Vielfalt der Sprache.
In beißender Ironie zeigt er seine Kritik am Machtgebaren dieses mächtigen Senders und dieser mächtigen Männer, Männer als Karikaturen ihrer selbst. Seine Wortakkrobatik zeigt sich in herrlichen Wortneuschöpfungen (schweinepeinliches Feuerwehrschweifauto, irrer Blendwörter-Lalltext, Peer Group-Reinheitsgebot).
Stakkatohaft werden Ereignisse, Überlegungen, weitere Gedanken aneinandergereiht, es gibt so viel zu „bedenken“.
Es stellt sich die Frage, ob wir bei diesem Buch von einem „Roman“ sprechen können, denn die Geschehnisse sind mehr real als fiktional, das trifft auch auf die Protagonisten zu. Obwohl der Autor, zu Beginn des Buches ausdrücklich darauf hinweist (hinweisen muss?): „Dieser Roman ist in Teilen inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen, er ist jedoch eine hiervon losgelöste und unabhängige fiktionale Geschichte.“. Es ist kein Geheimnis, dass es sich bei dem am Ende des Buches Ex-Freund des Erzählers um Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner, und den zum Erzählzeitpunkt 2019 sehr mächtigen "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt handelt. Da war Heinrich Böll doch mutiger….
Ein wichtiger Blick auf ein wichtiges Thema. Ob der Erzähler nun wirklich auf Seiten der Me-Too-Bewegung steht? Ich weiß es nicht. Er möchte politisch korrekt rüberkommen, ist vorsichtig bei seinen Urteilen. Vielleicht möchte er auch seine Rolle in diesem schauderhaften Schauspiel rechtfertigen. Zum Verhalten seiner Geschlechtsgenossen jedoch ist sein Urteil klar.
Ich kann das Buch unbedingt empfehlen, zumal es gerade so kontrovers diskutiert wird.