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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Barbara Cassin denkt mit Homer, Vergil und Hannah Arendt über Heimat und Exil nach
Kollektivgefühle des Zuhauseseins in Landschaft, Sprache, Herkommen sind eine politische Ressource. Bewirtschaftet wird sie vorzugsweise durch die konservative Seite des politischen Spektrums. Skepsis gegenüber den "Anywheres" und Verständnis für die Ressentiments der "Somewheres" sind allgegenwärtige Motive öffentlicher Diskussion geworden - die Metaphern stammen aus einem viel diskutierten Buch des britischen Journalisten David Goodhart.
Allerdings: jene gut ausgebildeten, reichen Menschen, die in Dubai angeblich so gut zurechtkommen und sich dort wohlfühlen wie in New York oder London: Gibt es sie als relevante Gruppe eigentlich wirklich? Inwieweit prägen sie die soziologische Landschaft? Geht die verbreitete Nachsicht gegenüber reaktionären Dispositionen von Bevölkerungsgruppen, die man als arm, ungebildet, ortsgebunden und heimattreu imaginiert, nicht vielleicht eher auf ein soziologisches Phantasma zurück?
Diese Fragen sind angesichts des großen Erfolgs der Goodhart'schen Erzählung fast in den Hintergrund getreten. Die französische Philosophin, Altphilologin und Wissenschaftsmanagerin Barbara Cassin hat sich mit Heimat, Nostalgie, Verwurzelung, Globalisierung, Technik schon lange anlässlich ihrer Auseinandersetzung mit Werk und Person Martin Heideggers beschäftigt. Dessen intensive französische Rezeptionsgeschichte hat Cassin seit den späten Sechzigerjahren entscheidend mitgeprägt. "Bauen, Wohnen, Denken" lautet der Titel eines Vortrags von Heidegger aus dem Jahr 1951, in dem eine Art "Metaphysik der Somewhereness" entfaltet wird. Barbara Cassins Essay "Nostalgie" ist demgegenüber der Versuch, den "Somewhere"-Diskurs so umzuformatieren, dass er im Klima von Globalisierung, Hypermoderne und Turbokapitalismus liberale und linke Denkperspektiven eröffnet, statt der konservativen, zu denen er offenbar eine sozusagen natürliche Neigung hat.
Nur scheinbar verdankt es sich dem berüchtigten Grandes-Écoles-Bildungssnobismus oder der akademischen Prägung der gelernten Altphilologin, dass Cassin dieses philosophische Dekonstruktions- und Umformatierungsunternehmen - nach einer berührenden und sehr persönlichen Eloge auf ihre Wahlheimat Korsika - mit einer detaillierten Lektüre zweier antiker Epen beginnt: Homers "Odyssee" und Vergils "Aeneis" bilden Thema und Substrat der ersten beiden Kapitel. Die Motive der Heimkehr, der Sprache, des Exils und des Heimwehs werden anhand ihrer weltliteraturgeschichtlich frühesten Formulierung ausgedeutet.
Aber dieser Rückgriff ins Langvergangene ist weder zufällig noch willkürlich. Denn die Mythen, auf denen Homers Epik gründet und auf die sich auch der Römer Vergil in seinem kaiserzeitlichen Gründungsepos bezieht, spiegeln eine vorgeschichtliche Epoche der Globalisierung, der Migration, des grundlegenden Umsturzes von Heimat und Herkommen. Die Geschichten der Heimatsucher Odysseus und Aeneas stammen aus der Epoche einer Eroberung bronzezeitlicher Lebenswelten und Protohochkulturen durch eisenverarbeitende Reiter- und Kriegergesellschaften. Die "dorische Landnahme", die weit über das Mittelmeer hinausgreifenden Handelsbeziehungen jener frühen Jahrhunderte, die Eroberung und Zerstörung von Städten und Reichen um die Zeit vor der ersten vorchristlichen Jahrtausendwende haben eine gewaltsame, aber auch intellektuell fruchtbare Dialektik von "Somewheres" und "Anywheres" an den Anfang Europas und seiner Kulturgeschichte gestellt.
Barbara Cassins Lektüre der beiden antiken Epen verfolgt die Spuren jener Umwälzungen in den paradoxen Schicksalen des "vielgewandten" Odysseus und des Trojaflüchtlings und Stadtgründers Aeneas. Die entscheidende Pointe ihrer faszinierenden und einleuchtenden intellektuellen "Arbeit am Mythos" ist die seltsame Bestimmung, dass Aeneas Rom nur dadurch dauerhaft gründen konnte, indem er seine angestammte Sprache aufgab und "die Sprache des Anderen" annahm - das Lateinische statt des Griechischen. Durch die so entstandene "inbegriffene Andersartigkeit", so Cassin, sind "wir alle Exilanten" geworden und ist die Sprache die einzige Heimat, in der wir ohne Reue uns daheim fühlen können.
An dieser Peripetie der intellektuellen Erzählung tritt eine dritte Figur paradoxen Heimatgefühls in sie ein. Es ist eine Frau und eine Exilantin wie Odysseus und Aeneas, nämlich die im zwanzigsten Jahrhundert aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach New York geflüchtete Philosophin Hannah Arendt. Statt antiker Epen bildet im dritten Kapitel eine Fernsehsendung die entscheidende Textgrundlage: das berühmte Gespräch der Philosophin mit Günter Gaus. Arendt erweist sich hier als Theoretikerin und als lebensgeschichtliche Verkörperung eines nicht-identitären, in der Exilerfahrung wurzelnden Heimatgefühls, dessen Substrat die Sprache ist. Exil bedeutet - ob im antiken Epos oder im Lebenslauf der modernen Philosophin - notwendig eine Vielfalt von Sprachen, die existenzielle Notwendigkeit ständigen Übersetzens.
"Die schwankende Vieldeutigkeit", schreibt Cassin, "hat Modellcharakter angenommen; ausnahmsweise einmal bilden Exilanten, Flüchtlinge, Juden die Avantgarde der 'condition humaine', jedenfalls verkörpern sie die am wenigsten abwegige Norm." Exil und Übersetzung werden zum Modell gelingender Politik. Diese stellt sich "gegen eine 'Vereindeutigung', durch die Totalitarismus droht, sie zieht es vor, die Komplexität philosophischer Universalität und Wahrheit radikal zu erhöhen".
Der Titel, den Cassin ihrem letzten Kapitel gegeben hat - "Schwimmende Wurzeln" -, ist die utopische Chiffre einer sich "nicht abschottenden Welt", die mit unablässigen Übersetzungsleistungen beschäftigt ist. In ihr wäre die Spaltung zwischen "Somewheres" und "Anywheres" obsolet geworden. "Wo sind wir wirklich zuhause? Wenn wir selbst, unsere Nächsten und unsere Sprache bzw. Sprachen willkommen sind." So lauten die letzten Sätze dieses politisch sympathischen und philosophisch ideenreichen Essays. STEPHAN WACKWIITZ
Barbara Cassin: "Nostalgie". Wann sind wir wirklich zuhause?
Aus dem Französischen von Christine Pries. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 142 S., geb., 22,- Euro.
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