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"Nix ich will hören", sagt der junge irakische Flüchtling in Abbas Khiders neuem Roman "Ohrfeige". Dann fängt er an zu reden. Und erzählt von einer Reise aus der Diktatur ins Reich der Ohnmacht.
Drei Jahre und vier Monate hat Karim Mensy aus Bagdad in Deutschland gelebt: in Dachau, Zirndorf, Bayreuth, Niederhofen und München. An keinen dieser Orte ist er freiwillig gegangen, er hat sie sich nicht ausgesucht und wollte in ihnen nicht heimisch werden. Viel sei geschehen in dieser Zeit, aber nichts, so Karims bittere Bilanz, worauf er stolz sein könne: "Alles, was ich erreicht habe, ist ein gigantisches Nichts. Der einzige, der sich freut, ist mein Schlepper Abu Salwan."
Karims Reise von Bagdad nach Bayern hatte fünf Wochen gedauert. Zunächst ging es mit dem Auto nach Istanbul, von dort weiter bis an die griechische Grenze, wo der Evros mit einem Schlauchboot überquert werden musste. Die nächste Station war Athen, dann folgten Patras, Venedig, Rom und Bozen. Auf jeder Station wechselten die Schlepper und die Zusammensetzung der Flüchtlingsgruppe. Am Ende sitzt Karim mit drei weiteren Passagieren im Laderaum eines Transporters, den sie nach sechsstündiger Fahrt im Morgengrauen ohne ein Wort der Erklärung verlassen müssen: "Bislang hatte überall ein Schlepper auf mich gewartet. Dieses Mal jedoch fand ich mich an einem unbekannten Ort wieder, zusammen mit drei anderen Jungs. Keiner von uns wusste, wo wir waren oder was jetzt am besten zu tun war. Wir standen auf einer verwaisten Landstraße, um uns herum schneebedeckte Felder, einige entlaubte Bäume und eine Kälte, die uns bis tief in die Knochen fuhr. Weder Menschen noch Autos waren zu sehen, lediglich ein paar Gebäude, weit entfernt. ,Ist das Deutschland?', fragte einer der Jungs."
Ja, das ist Deutschland. Das gelobte Land. Das gehasste Land. Das Land, das unter seinen Paragraphen und seine Ängsten verschüttet wird. Das Land, in dessen Gesicht die Neuankömmlinge nicht zu lesen vermögen. Das Land, in dem, wie einer von ihnen sagt, die Frauen nicht putzen und nicht kochen, aber wie Herrinnen behandelt werden wollen. Das Land, in dem die Grundregel für jeden Asylbewerber lautet, niemals die Wahrheit zu sagen, sondern nur das, was dem Erlangen einer Aufenthaltsgenehmigung dienlich ist. Das Land, das Karim und vielen tausend anderen ein Dach über dem Kopf schenkt, sie alle kleidet, nährt, versorgt, beschützt und ausgrenzt. Denn ein ganz normales Leben - das kann auch dieses Land nicht verschenken. Es kann es nicht einmal verordnen.
"Ohrfeige" gilt als Roman der Stunde, weil Abbas Khider darin vom Schicksal eines Asylbewerbers und seiner Weggefährten erzählt. Das ist nicht ganz falsch, sollte aber nicht vergessen lassen, dass Khider seit seinem 2008 erschienenen Debütroman "Der falsche Inder" stets um dieselben Themen kreist: Vertreibung, Flucht, Heimatlosigkeit, Außenseitertum und der Kampf um Individualität in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Systemen, ob in Bagdad, Benghasi oder Bayern. Khiders Figuren sind Entwurzelte, Träumer und Beobachter, Einzelgänger, Poeten ohne Werk, die in den Wahnsinn abgleiten wie Karims Freund Rafid, Romantiker in aussichtsloser Lage, und Spielbälle eines Schicksals, das überwiegend in einfachen Worten erzählt wird, aber weitaus komplexer ist, als man auf den ersten Blick meinen könnte.
Die Schauplätze des Romans sind Gefängniszellen, Asylantenwohnheime, die "Goethemoschee" in der Münchner Goethestraße, muslimische Kulturvereine, in denen die Parallelgesellschaft ihre Netzwerke organisiert, Obdachlosenheime, in denen Unterschlupf findet, wer als Asylberechtigter anerkannt wurde, aber keine eigene Wohnung bezahlen kann, weil er noch keine Arbeit gefunden hat. Im Obdachlosenheim wohnen "entweder geduldete Ausländer oder drogenabhängige Inländer". Andere, normale Bürger, erscheinen Karim wie "Fabelwesen aus einem fernen Märchenland". Polizisten, Schlepper, Dealer sind fast schon die einzigen Einheimischen, mit denen Menschen wie Karim in Kontakt kommen. Dann gibt es noch die Mitarbeiter der Caritas und ehrenamtliche Helfer wie Frau Schmitt, eine ältere Dame, die sich hingebungsvoll um die Flüchtlinge kümmert, bis einer von ihnen ihr öffentlich einen Heiratsantrag macht. Die Folgen sind drastisch: "Sie verschwand einfach so aus unserem Leben wie die Sonne in einem deutschen Winter."
Khider erzählt von den Träumen der jungen Männer, von ihren Sehnsüchten, ihrer Wut und ihrer Verzweiflung. Er beschreibt drastisch die bedrückende, zwischen Apathie und Aggression schwankende Atmosphäre in den Wohnheimen, in denen Männer aus den unterschiedlichsten Weltgegenden miteinander auskommen müssen: Albaner, Serben, Somalier, Iraner, Kurden, Iraker. Kleinkriminalität und Gewalt sind häufig. Ab und an tauchen teure Autos vor den Toren des Wohnheims auf. Dann sind betuchte Einheimische meist fortgeschrittenen Alters und beiderlei Geschlechts auf der Suche nach jungen Bettgenossen. Auch Karims Freund Khaled prostituiert sich. Karim selbst sortiert lieber Müll für achtzig Euro im Monat. Mehr darf er offiziell nicht verdienen, solange er keine Arbeitserlaubnis hat.
Für alle Papiere und Bescheinigungen jeglicher Art ist Frau Schulz zuständig, Karims Sachbearbeiterin in der allmächtigen Ausländerbehörde. Ihr gilt die Ohrfeige, die der Titel des Romans ankündigt und mit der die Handlung einsetzt. "Stumm und starr vor Angst hockt sie in ihrem Drehstuhl, als hätte die Ohrfeige sie betäubt", so lautet der erste Satz. Dann fesselt Karim seine Peinigerin und klebt ihr den Mund zu: "Nix ich will hören!"
Die Enttäuschung, das endlose Warten, die Demütigungen und Rückschläge und vor allem die jedes Selbstwertgefühl abtötende Erfahrung langanhaltender Ohnmacht, all das scheint sich mit einem Mal zu entladen, als Karim Frau Schulz in ihrem Büro fesselt. Aber passiert das tatsächlich oder handelt es sich nicht vielmehr um einen Tagtraum, ausgelöst von den Haschischzigaretten, die Karim raucht, während er in der Münchner Wohnung seines Freundes darauf wartet, sich dem nächsten Schlepper anzuvertrauen, der ihn nach Finnland bringen soll? Kursiv gesetzte Passagen unterbrechen Karims Traumredefluss, in dem er der geknebelten Sachbearbeiterin erzählt, was sie nie hören wollte: seine ganze Geschichte.
Khider hat seinen Roman aus guten Gründen in den Jahren des zweiten Irak-Krieges angesiedelt, der mit dem Sturz Saddam Husseins endete und das Land ins Chaos stürzte. Karim wird die Asylberechtigung wieder entzogen. Dabei war er gar nicht vor dem Diktator geflohen, sondern vor dem Militärdienst, wo er sein Geheimnis nicht hätte bewahren können: Er leidet unter Gynäkomatie, ist also ein Mann mit weiblichen Brüsten, kein Hermaphrodit, sondern, wie er glaubt, der auserwählte Träger eines Erbes, das ihm seine Kinderliebe hinterlassen hat. Hayat war bildschön, taubstumm und wurde in Bagdad von drei Männern entführt, vergewaltigt und getötet, als sie dreizehn Jahre alt war. In dieser allegorischen Figur, die Karim auf all seinen Wegen begleitet, zeigt sich Abbas Khiders dunkle poetische Kraft: Hayat ist das arabische Wort für Leben.
HUBERT SPIEGEL
Abbas Khider: "Ohrfeige". Roman.
Hanser Verlag, München 2016. 220 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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