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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Frank Schulz schreibt den dritten Teil seiner Trilogie um den größten Antihelden unserer Zeit. Und nebenbei noch einen großen Familienroman.
Von Wiebke Porombka
Dass Frank Schulz mit seinem phlegmatischen, notorisch klammen, außer "tjorp", "nech" und "öff, öff" nicht viele und beileibe keine großen Worte machenden Gelegenheits-Privatdetektiv Onno Viets den grandiosesten Antihelden unserer Zeit geschaffen hat, muss kaum noch einmal gesondert hervorgehoben werden, nun, da der mittlerweile dritte Band um den Hamburger Sozialleistungsempfänger erscheint, der seine Tischtennisfreunde regelmäßig mit seiner ungemein effektiven Passivität in den Wahnsinn treibt. "Mit steifen Knien, den Schläger in der Linken, stand Onno mir gegenüber. In Shorts, die sich (bis auf die türkisfarbenen Streifen an den Hüften) farblich kaum von der blassen, haarlosen Haut abhoben, und ebensolchem Unterhemd."
"Onno Viets und der weiße Hirsch" heißt der letzte Band der Trilogie, mit der Schulz seinen Lesern eine radikale Impfung verpasst gegen die tückischen Viren der Gegenwart, die sich in allen Spielarten von Optimierung, Schönheitswahn und smarter Eloquenz äußern. Der Verkleinerungs- und Tiefstapelei-Künstler Onno schöpft sein Heldentum gerade daraus, dass er all diese Attribute himmelweit unterläuft. Dass diese aus der Zeit gefallene Gestalt, die sich im ersten Band mit einem surreal-brutalen Kiez-Ungeheuer herumschlagen musste, was ihr unglücklicherweise eine posttraumatische Belastungsstörung eingebracht hat, so ziemlich zum Komischsten gehört, was man in den vergangenen Jahren lesen durfte, steht außer Frage. Genauso wie die Einsicht, dass die Selbstverständlichkeiten der Gegenwart reichlich merkwürdig und albern wirken, wenn man sie probehalber einmal aus der Onno-Perspektive betrachtet, nech? Tjorp.
Die gesellschaftsdiagnostischen Wirkungstreffer haben eine ähnliche Durchschlagskraft wie die linkischen Rückhandschläge, mit denen Onno an der Tischtennisplatte seinen Sparringspartnern den letzten Nerv raubt. Einer von ihnen, der Rechtsanwalt Dr. Christopher Dannewitz, fungiert in gewohnter Manier zugleich als vermeintlich seriöser, wenngleich ob seiner eingestandenen zwischenzeitlichen Abwesenheit vom Geschehen auch nicht wirklich wasserdichter Erzähler.
Der eigentliche, äußerst gewiefte und seinem Helden an Brillanz in nichts nachstehende Verkleinerungskünstler ist natürlich Frank Schulz selbst, der, getarnt durch das behauptete Genre der Kriminalliteratur und den norddeutschen Kalauer, mit "Onno Viets und der weiße Hirsch" nun klammheimlich einen großen Familien- und Nachkriegsroman geschrieben hat. Nach Reeperbahn und Kreuzfahrtschiff ist das Geschehen in das kleine Örtchen Finkloch verlegt, in dem es, wie der Name schon nahelegt, um den Handyempfang zwar erbärmlich bestellt ist, dafür aber die Frequenzen auf den Zählern aller erdenklichen - und dazu noch aller schwer vorstellbaren, weil abstrusen - Unterströmungen und Strahlungen umso heftiger ausschlagen.
Angesichts der Einsicht, dass die virtuosen, aber in ihrer behaupteten Beiläufigkeit fast unauffälligen Verknüpfungen, die Schulz entspinnt, an dieser Stelle noch nicht einmal ansatzweise nachvollzogen werden können, ließe sich das Ganze der Einfachheit halber in etwa wie folgt zusammenfassen: Am Anfang steht die Geburtstagsfeier von Onnos Schwiegervater, einem leidenschaftlichen Jäger, die Schulz zum Anlass nimmt, um in einem permanenten Wechsel von umgangssprachlicher, mit Plattdeutsch durchsetzter Schnoddrigkeit, beinahe lyrisch anmutender Lautmalerei und unangestrengt fein durchgearbeiteter Sprache die eigentlich unerträglichen, aber eben doch liebenswerten Gestalten zu umreißen, die auf so einer Feier durch den Garten staksen, nebst allen Verquickungen, die sich in einem Familien- und Dorfleben nicht vermeiden lassen.
Unschlagbar allein, wie die junge, hübsche, leider unglaublich spießige Freundin des Rechtsanwalt-Erzählers erst von dem greisen Jägergehilfen des Schwiegervaters angeflirtet wird, etwas norddeutsch hemdsärmelig allerdings und dazu mit einem Gebiss, das ein wenig aus den Fugen geraten ist und deshalb permanent Zisch- und Klappergeräusche erzeugt: "Na Hauptsache, Füße gewaschen, nn? Ft, ft." Und wie sich die feine Hanseatin schließlich in Krämpfen windet, weil sie so fein und hanseatisch ist, dass sie sich trotz höchster Not partout nicht überwinden kann, die Toilette aufzusuchen, aus Angst, einer der Gäste könnte etwaige Lautentweichungen vernehmen.
Es folgen allerhand schräges Kasperletheater und Budenzauber. Um nur ein paar Stichworte zu nennen: mutmaßliche Ermordung des Gebissträgers und Jagdgehilfen im Hochsitz, nächtlicher Schusswechsel mit Unbekanntem nebst verschwundener Leiche, ebenso esoterische wie aggressive, aus Bayern zugezogene Besitzerin unzähliger Katzen, die bei Mondschein weißgewandete Damen dies- und jenseits der Midlife-Crisis in Ekstase versetzt.
Und während Onno, der sich nach dem Aufflammen der posttraumatischen Belastungsstörung im Haus seiner Schwiegereltern verkrochen hat und deren Biervorräten schwer zusetzt, in bewährter Planlosigkeit durch Wälder und Wiesen streift, um den Absonderlichkeiten, die sich in Finkloch zutragen, auf den Grund zu gehen, bohrt sich Frank Schulz mit seinem Roman unversehens in ganz andere Tiefen. Nicht nur ein irgendwo zwischen abenteuerlicher Kolportage und historischer Tragik verortetes Stück deutsch-deutscher Familiengeschichte kommt ans Tageslicht. Schulz dringt noch ein Stück weiter in die Vergangenheit vor und legt die verdrängte und abrupt abgeschnittene Geschichte der Vertreibung und des Vaterverlusts von Onnos Schwiegervater frei.
Es mag der Tatsache geschuldet sein, dass Frank Schulz hier einen Teil seiner eigenen Familiengeschichte verarbeitet, dass der Schluss der Romans ein wenig von der üblicherweise dominierenden pingponghaften Leichtigkeit einbüßt. Und dennoch liefert Schulz mit seiner letzten Meldung aus dem Onno-Universum den endgültigen Beweis dafür, dass Humor, wenn er denn so klug und hintersinnig ist wie der seine, so lange an den festen Verschraubungen unserer biographischen, sozialen und historischen Selbstwahrnehmung rüttelt, bis längst überwunden geglaubte Versehrtheiten aufbrechen, auf dass sie endlich geheilt werden können.
Frank Schulz: "Onno Viets und der weiße Hirsch". Roman.
Galiani Verlag, Berlin 2016. 368 S., geb., 19,99 [Euro]
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