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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
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Ein mit viel Herzblut geschriebener Traktat über politische Gleichheit
Dem deutschen Publikum war Danielle Allen bislang weitgehend unbekannt. "Politische Gleichheit" ist ihr erstes Buch, das hierzulande erscheint. Es geht auf die prestigeträchtigen Frankfurter Adorno-Vorlesungen zurück, die sie 2017 hielt. In Amerika ist sie schon seit längerem eine vielbeachtete Politikwissenschaftlerin, die mehrere Monographien (u.a. "Our Declaration", "Talking to Strangers", "Education and Equality") veröffentlicht hat, deren Grundgedanken sie auch in die aktuelle Schrift einfließen ließ und darin weiter modelliert hat. Allen studierte an erstklassigen amerikanischen Universitäten, wurde gleich doppelt promoviert (in Altphilologie und Regierungslehre) und unterrichtet schon seit mehr als zwei Jahrzehnten an renommierten Einrichtungen wie Chicago, Princeton und Harvard. Außerdem meldet sie sich öffentlich zu Wort und schreibt eine regelmäßige Kolumne in der "Washington Post".
Allen startete politisch im konservativen Milieu, absolvierte sogar eine Hospitanz bei der Zeitschrift "National Review", dem Flaggschiff eines angriffslustigen libertären Konservatismus. Das Magazin attestierte Allen auch dann noch einen gestochen scharfen Verstand und nannte ihre Bücher exzellent, als sie sich zunehmend nach links bewegte, ohne sich allerdings je mit plumpen Ideologien - gleich welcher Provenienz - anzufreunden. Als Wendepunkt für ihr Umdenken nennt Allen die Lektüre von Statistiken, die eine hohe Ungleichverteilung der Einkommen in den Vereinigten Staaten belegten. Seitdem hat sie sich im Wahlkampf für Barack Obama ebenso wie in verschiedenen Reformprojekten engagiert. Anders als ihr Damaskus-Erlebnis es nahelegt, denkt Allen genuin politisch und setzt nicht in erster Linie bei materiellen Ausgangsbedingungen an.
Insofern sucht diese nach links gedriftete, aber keineswegs antikapitalistisch gestimmte Intellektuelle die Wurzel allen Unheils nicht im ökonomischen Unterbau, von dem sie politische und soziale Phänomene ableitet. Auch gehört sie weder zu den weltverbessernden Traumtänzern noch zu den Untergangspropheten. Dazu vertraut sie zu sehr auf die Kraft des Politischen und die grundsätzliche Fähigkeit jedes Einzelnen, an der Gestaltung des Gemeinwesens teilzuhaben. Dort, wo das nicht der Fall ist, sucht sie nach Möglichkeiten einer entsprechenden "Ermächtigung". In mancherlei Hinsicht wirkt Hannah Arendt als ihr Vorbild. So teilen beide eine Vorliebe für die antike Philosophie und können der aristotelischen Ethik und Politik ebenso viel abgewinnen wie der Gründungsperiode der amerikanischen Republik. Wie Arendt ist Allen eine Verfechterin der Aktivbürgerschaft und misst der Möglichkeit des Menschen zum politischen Handeln und zum Neu-anfangen-Können einen hohen Wert bei. Danielle Allen ist ideengeschichtlich bewandert, blättert aber nicht einfach ihr Wissen auf, sondern unterzieht die Klassikerlektüre einer kritischen Inspektion. Das gilt insbesondere für John Rawls und seine "Theorie der Gerechtigkeit". Mit seinem "Differenz-Prinzip", wonach Ungleichheit nur zu rechtfertigen sei, insofern die Ungleichverteilung selbst den am wenigsten Privilegierten den größtmöglichen Vorteil bringt, habe er nicht nur eine Legitimation des Wohlfahrtsstaats geliefert, sondern auch einen neoliberalen "Kuhhandel", wie Allen mit einer Prise Polemik notiert, "ethisch gedeckt".
Noch gravierender sei aber, dass Rawls' Kompensationstheorie, wie sie Allen interpretiert, den Begriff der negativen Freiheit, die rechtsstaatliche Gewährleistung einer Entfaltung privaten Lebensglücks, in den Mittelpunkt gestellt habe. Er unterschätze damit die Bedeutung der positiven Freiheit, des menschlichen Bedürfnisses nach öffentlicher Autonomie, nach politischer Teilhabe, das Recht zur Mitgestaltung der Gesellschaft und ihrer Institutionen. Gerade angesichts sozialer und kultureller Heterogenität sei es notwendig, so Allen, "unsere Aufmerksamkeit zurück auf Partizipationsprojekte und egalitäre Ermächtigung als beste Ausgangspunkte für das Projekt der Gerechtigkeit und das Erlangen einer wohlgeordneten Gesellschaft zu lenken". Beherzige die Demokratie ihr egalitäres Kernversprechen, halte sie Diversität aus und sich selbst lebendig. Allen, skeptisch gegenüber Ideen der Assimilation wie des Multikulturalismus, wünscht sich für uns ein Selbstverständnis als "Polypoliten", die zugleich mehreren politischen Gemeinwesen und Organisationen angehören. Statt auf Homogenität und sozialen Zusammenhalt zu setzen, plädiert sie für eine "Interaktionskultur" und wünscht sich eine vernetzte, durch Brücken verbundene Gesellschaft, die dem Grundprinzip "Differenz ohne Herrschaft" zu folgen habe.
Allens Thesen wirken kraftvoll und sind mit Herzblut verfasst. Da mag man ihr nachsehen, dass sie weder eine Gewichtung verschiedener gesellschaftlicher Differenzen je nach Grad der Zuträglichkeit für das Funktionieren der Demokratie vornimmt noch ihre Grundvorstellungen mit unterschiedlichen Demokratiemodellen abgleicht. Hier wirken ihre Thesen bisweilen in übersteigerter Weise inklusiv. Dabei genügt es ihr keineswegs, ein großes theoretisches, allgemeingültiges Panorama aufzuspannen. Sie möchte einen Mittelweg zwischen politischer Theorie und dem Entwurf konkreter Reformvorstellungen beschreiten. Letztere sind nur am Rande Bestandteil ihres Traktats, finden aber Ausdruck in einem Reformprogramm ("Our Common Purpose"), wie es erst jüngst die American Academy of Arts and Sciences unter Allens Vorsitz entwickelt hat.
Es ist gut, dass nun eine erste Schrift von Danielle Allen auf Deutsch vorliegt. Dies dürfte nur der Auftakt sein. Wenn die Erwartung nicht täuscht, werden wir von dieser eigenwilligen Denkerin, die sich im kontemplativen Rückzugsraum rüstet, um aus dem Elfenbeinturm herauszutreten, noch einiges hören.
ALEXANDER GALLUS
Danielle Allen: Politische Gleichheit. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2017.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 240 S., 28,- [Euro].
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