»An der Kasse verstand ich "Bulgur" oder "Burur" . "Sie (𝑅𝑎𝑢𝑠𝑐ℎ𝑒𝑛), oder?", 1x sagte ich "ja", ohne zu verstehen, 2x sagte ich "nein", ohne zu verstehen, 3x sagte ich "ich weiß nicht", ohne zu verstehen. Die Stimmung wurde angespannter, ich zahlte und wir gingen verärgert auseinander, der Kassierer
und ich.« |29
Louise weiß noch nicht, was sie will, was sie kann, wie sie sich sieht und wo sie…mehr»An der Kasse verstand ich "Bulgur" oder "Burur" . "Sie (𝑅𝑎𝑢𝑠𝑐ℎ𝑒𝑛), oder?", 1x sagte ich "ja", ohne zu verstehen, 2x sagte ich "nein", ohne zu verstehen, 3x sagte ich "ich weiß nicht", ohne zu verstehen. Die Stimmung wurde angespannter, ich zahlte und wir gingen verärgert auseinander, der Kassierer und ich.« |29
Louise weiß noch nicht, was sie will, was sie kann, wie sie sich sieht und wo sie hingehört. Bisher schaffte sie es, mit ihrem schlechten Gehör unter dem Radar zu bleiben. Doch nun entsteht Handlungsdruck, ihr Gehör droht ganz zu verschwinden. Fürs Erste zieht es Louise in poetisch aufgeladene Zwischenwelten. Sie beschäftigt sich dort mit dem Hören, mit der Stille, mit dem Licht und mit der Dunkelheit. Zwanghaft versammelt sie die sich verlierenden Töne in einem Klangherbarium. Ein Hund erscheint ihr und begleitet sie treu. Ein Soldat, leidenschaftlich vereinnahmend, nüchtern, operativ planend und schlussfolgernd, kommt ihr immer wieder. Etwas entfernter gesellt sich eine Botanikerin dazu, sie blickt verdächtig begehlich auf den Soldaten und er blickt zurück.
Doch auch die Außenwelt dringt durch. Im Job wird Louise ins Untergeschoss beordert, ins Sterbeurkundenarchiv, das ist nicht die letzte Station ihrer Verdrängung. Ein Cochlea-Implantat steht im Raum. Es könnte ein neues Hören in anderer Qualität ermöglichen, doch ob es klappt oder nicht, ihr Restgehör müsste dafür sterben. Ihre Freundin lehnt das Implantat ab, denn sie braucht eine Komplizin in der Zwischenwelt. Louisas neuer Freund und ihre besitzergreifende Mutter möchten sie auf die Seite der Hörenden zerren, sie reden die Operation herbei. Begegnungen mit anderen Betroffenen wecken Hoffnungen, doch auch hier dockt sie nicht an, sie findet nur Differenzen um Differenzen.
Das Passing eines Menschen von kaum wahrnehmbaren Beeinträchtigungen zur sichtbaren Schwerhörigkeit mit drohender Taubheit vollzieht die Protagonistin naiv schwebend zwischen allem und für sich.
Wie die Welt mit ihr umgeht oder gerade dies versucht zu vermeiden, erschließt sich, ebenso die Möglichkeiten vom Verstecken, von Implantaten, Hilfsmitteln und Anpassungen, vom Eintreten in die Gebärdenwelt und dem Entgleiten in innere isolierte Traumwelten.
Sprachlich driftet Rosenfelds Debüt von Prosa in fragmentarisch, von fragmentarisch in einen Berichtstil, vom nüchtern betrachtenden Berichtstil in eine fließend-überbordende Traumwelt mit von Synästhesie gespickter Ästhetik, vom Bewussten, ins Vorbewusste und bereit für den Abstieg in unbewusste Sphären. »Quallen haben keine Ohren« ist ein starkes Debüt, das auch in der sicherlich herausfordernden Übersetzung von Nicola Denis hervorragend funktioniert. Es stand auf der Shortlist des Prix Goncourt du Premier Roman und wurde 2022 ausgezeichnet mit dem Prix Fénéon.