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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Neil MacGregor, Autor der "Geschichte der Welt in 100 Objekten" hat mit "Shakespeares ruheloser Welt" abermals eine faszinierende Lektüre vorgelegt.
Von Hubert Spiegel
Kannte Shakespeare Tabus? Wohl kaum. In seinen Stücken gibt es nichts, was es nicht gibt. Königsmorde und Kannibalismus. Schwarze und weiße Magie. Inzest und Blutschande. Männer, die Männer lieben. Männer, die Frauen lieben, die sie für Männer halten. Eine Frau, die sich nach einem Esel verzehrt. Zerstückelte Leiber. Gequälte Seelen. Da fehlt nichts. Oder doch?
Und was ist mit Irland? Der Mann, der diese Frage stellt, hat vor zwei Jahren mit seiner "Geschichte der Welt in 100 Objekten" einen aufsehenerregenden Bestseller geschrieben: Ein Buch, dass den Versuch unternimmt, die gesamte Menschheitsgeschichte anhand von hundert verschiedenen Objekten abzuhandeln. Hundert Objekte aus einem Zeitraum von zwei Millionen Jahren, allesamt aus den gigantischen Beständen des von ihm geleiteten British Museum stammend, das war die Grundlage für Neil MacGregors Buch. Was seinen überwältigenden Erfolg erst möglich machte, war die Kunst des Autors, seine leblosen Gegenstände zum Sprechen zu bringen.
Dem Buch war die gleichnamige Rundfunkserie in der BBC vorangegangen. Sie elektrisierte und beschäftigte ganz England. Im vorigen Jahr ließ der Museumsdirektor eine neue Serie folgen, die sein Erfolgsmodell auf Shakespeare und die elisabethanische Welt übertrug. Jetzt liegt "Shakespeares ruhelose Welt" auch auf Deutsch vor: eine faszinierende Lektüre, die uns lehrt, den Klassiker mit den Augen seiner Zeitgenossen zu sehen, und ein wunderschön ausgestattetes Buch, das man immer wieder gern in die Hand nehmen wird.
MacGregor stellt uns darin nicht nur die Menschen vor, die damals, im Übergang vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert, Shakespeares Stücke sahen, sondern er zeigt uns die Welt, in der sie lebten. Es war eine Welt im Umbruch. Was diese Welt erschütterte, das ließ auch die Bretter des Globe Theatre erzittern. Shakespeare, wie MacGregor ihn uns zeigt, war ein Dramatiker, dessen Horizont den gesamten Erdball umfasste.
Soeben hatte Francis Drake mit seinem Schiff, der "Golden Hind", als erster Engländer die Welt umsegelt. Wenig später schickt Shakespeare in der "Komödie der Irrungen" einen weiteren Entdeckungsreisenden auf Expeditionsfahrt, den unverschämten Diener Dromio, der den Körper eines armen Dienstmädchens umrunden möchte: "Sie ist kugelförmig wie ein Globus; ich wollte Länder auf ihr entdecken." In den "Lustigen Weibern von Windsor" vergleicht Falstaff zwei hübsche Frauen mit Ost- und Westindien. Er will sie brandschatzen und "nach beiden Handel treiben". Ist das frauenfeindlich? Aus heutiger Sicht schon. Damals war ein anderer Subtext wichtiger. Shakespeare verweist unverhohlen auf den Umstand, dass derartige Entdeckungsreisen immer aus materiellen Gründen und auf gewaltsamem Wege erfolgten. Mit dem Anteil, den Elisabeth I. aus den Erlösen von Drakes Reise erhielt, konnte die Königin ihre jährlichen Einkünfte verdoppeln. Der Gewinn des Konsortiums, das die Reise finanziert hatte, soll bei 4700 Prozent gelegen haben.
Gut zehn Jahre nach Drakes Erdumrundung wurden in London die ersten englischen Globen angefertigt. Sieben Jahre später nennt Shakespeare sein eigenes Theater "Globe". Drakes Reise hatte 1018 Tage gedauert. Im "Sommernachtstraum" zeigt Shakespeare, was sein Theater unter Beschleunigung versteht, wenn er Puck sagen lässt: "Rund um die Erde zieh' ich einen Gürtel / in viermal zehn Minuten". Oberon ergänzt: "Schneller als die Monde kreisen, / können wir die Erd' umkreisen."
Mit der Gedenkmünze für Drakes Reise, die geprägt wurde, als Shakespeares Theaterlaufbahn ihren Anfang nahm, also zu Beginn der achtziger Jahre des sechzehnten Jahrhunderts, lässt MacGregor sein Buch beginnen. Englands Horizont hatte sich erweitert. Der Aufstieg zur Seemacht stand bevor. Noch war England seinen Konkurrenten, Spaniern, Portugiesen, Niederländern und der damaligen Handelsgroßmacht Venedig unterlegen. Von außen bedroht - 1588 wird die Spanische Armada vor Englands Küsten auftauchen - und im Inneren von Glaubenskämpfen geschwächt und zerrissen.
Shakespeares Generation war die erste in England, deren Angehörige zum größeren Teil noch nie in ihrem Leben eine lateinische Messe gehört hatten. Zu den Amtspflichten von John Shakespeare, dem Vater des Dramatikers, der es vom Handschuhmacher zum Ratsmitglied und Bürgermeister brachte, gehörte auch das Ausmerzen katholischer Symbole und Objekte in Stratford. So ließ er die farbigen Glasfenster in der katholischen Kapelle des Gildenhauses durch Klarglas ersetzen, eine Szene der Zerstörung, wie MacGregor schreibt, "die sein damals siebenjähriger Sohn durchaus miterlebt haben könnte".
MacGregor handelt dieses Kapitel anhand des sogenannten "Stratford-Kelches" ab. Das ist ein Kommunionskelch für das protestantische Abendmahl. Dann wendet er sich einer Gabel zu, also einem Luxusgegenstand, wie ihn nur ein junger Adliger im Rose Theatre verloren haben kann, wo er bei Ausgrabungen gefunden wurde. Denn das Theater, das wenige Jahre zuvor noch eine höfische, allein dem Adel vorbehaltene Einrichtung gewesen war, wurde nun zu einem öffentlichen Ort, an dem sich Angehörige aller Stände begegneten, wenngleich die einen in ihren Logen saßen und die anderen vor der Bühne standen, nachdem sie den Eintrittspreis von einem Penny entrichtet hatten.
Während sein Publikum sich fragt, was nach dem Tod seiner kinderlosen Königin Elisabeth I. geschehen würde, lässt Shakespeare die Rosenkriege des fünfzehnten Jahrhunderts wiederauferstehen, um darin die Konflikte und Ängste seiner Zeit zu spiegeln. Dazu gehört aber durchaus auch die Furcht vor sozialen Unruhen, wie sie etwa von jenen Londoner Lehrjungen ausgehen konnten, die häufig in Shakespeare Publikum anzutreffen waren und dort ihre Mützen schwenkten. Eine von ihnen, mehr als vierhundert Jahre alt, hat MacGregor in sein Buch aufgenommen.
Es ist bewundernswert, wie leicht, verständlich und spannend MacGregor sein Wissen präsentiert. Er lässt Experten zu Wort kommen, referiert den Forschungsstand, stellt den zwanzig ausgewählten Objekten viele Dutzend weitere Gegenstände und Illustrationen zur Seite. Ein Spiegel aus dem Besitz von Dr. Dee, Englands einzigem zauberkundigen Gelehrten der Renaissance, illuminiert die Zauberkünste von Lady Macbeth wie von Prospero. Dabei ist der Spiegel an sich bereits ein Objekt, wie es sich magischer kaum denken lässt: eine schwarze Scheibe aus Obsidian, so groß wie ein Dessertteller, aber fast neunhundert Gramm schwer, ein Machtsymbol des aztekischen Königshauses, mit Steinwerkzeugen angefertigt kurz vor der Ankunft der Spanier. Die glänzende Oberfläche des Spiegels wurden, durch langes Reiben mit einer Schleifpaste besonderer Art erzeugt. Die aztekischen Handwerker benutzten die Exkremente eines Tieres, das immer schon mit schwarzer Magie in Verbindung gebracht wurde: der Fledermaus.
Im letzten Kapitel seines faszinierenden Buches verlässt MacGregor die elisabethanische Ära und begibt sich in die jüngste Vergangenheit, ins zwanzigste Jahrhundert, genauer gesagt: an den 16. Dezember 1977. An jenem Tag gelangte die sogenannte "Robben Island Bible" zu dem Gefangenen Nelson Mandela. Es handelte sich dabei um eine Gesamtausgabe von Shakespeares Stücken, die der Häftling Sonny Venkatrathnam mit bunten Postkarten beklebt hatte, die Hindu-Gottheiten zeigten. In dieser Verkleidung, so hoffte er, könne er das Buch ungehindert unter seinen Mithäftlingen zirkulieren lassen. Jeder sollte eine Zeile oder Passage anstreichen, die ihm besonders wichtig war. Als das Buch bei Nelson Mandela anlangte, unterstrich Südafrikas späterer Präsident eine Stelle aus dem "Julius Cäsar": "Der Feige stirbt schon vielmal, eh er stirbt, / Die Tapfern kosten einmal nur den Tod. / Von allen Wundern, die ich je gehört, / Scheint mir das Größte, daß sich Menschen fürchten, / Da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller, / Kommt, wann er kommen soll."
Noch bevor MacGregor auf Mandela zu sprechen kommt, erinnert er an jenes junge Paar, das in größter Eile 1942 im Warschauer Getto geheiratet hat: Marcel und Teofila Reich-Ranicki. MacGregor bezieht sich auf die Rede, die der kürzlich verstorbene Literaturkritiker im vorigen Jahr im Deutschen Bundestag gehalten hat. Darin zitierte Reich-Ranicki auch jenen Shakespeare-Satz aus "Richard III.", der ihm durch den Kopf schoss, als er seiner Tosia, mit der er fast siebzig Jahre lang verheiratet bleiben sollte, das Jawort gab: "Ward je in dieser Laun' ein Weib gefreit?"
Und was hat es nun mit dem Tabu Irland auf sich? Shakespeare war ein Informations-Junkie, begierig auf die neuesten Nachrichten. Ereignisse aus allen Winkeln der damals bekannten Erde haben Eingang in seine Stücke gefunden. Nur ein Winkel war davon ausgenommen: Irland. Denn dort widersetzten sich furchtlose und blutrünstige Aufständische Englands Oberherrschaft. Dieser Stachel schnitt allzu tief ins englische Fleisch.
Nur so viel soll an dieser Stelle verraten werden: Nach dem Tod von Königin Elisabeth nahm ihr Nachfolger, König Jakob I., Einblick in die in Whitehall aufbewahrten Regierungsdokumente. Als er sah, dass der Krieg gegen Irland mehr als zwei Millionen Pfund verschlungen hatte - das war mehr, als der Kampf gegen die Armada und die Unterstützung der niederländischen Rebellen zusammen die Krone gekostet hatten -, soll er ausgerufen haben: "Wir hatten größeren Aufwand mit Irland als mit der ganzen andren Welt." Darüber wollte selbst ein Shakespeare kein Wort verlieren.
Neil MacGregor: "Shakespeares ruhelose Welt".
Aus dem Englischen von Klaus Binder. Verlag C. H. Beck, München 2013. 347 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
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