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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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Für den Tisch Wie kommt man auf die Idee, in Sibirien nach verschollenen Klavieren zu suchen? Um diese Frage zu beantworten, muss man der Britin Sophy Roberts in eine Jurte folgen. Dort spielte die mongolische Pianistin Odgorel Bach. Odgorel hat mit Stipendien in Italien studiert, Roberts lernt sie über einen gemeinsamen Freund, den deutschen Filmemacher Franz-Christoph Gierke, kennen. Dieser hatte die Mongolin unterstützt, war aber unzufrieden mit ihrem Klavier. Und trägt der Britin auf, "eines der vergessenen Klaviere Sibiriens" für sie zu finden. Und so macht sie sich auf den Weg. Ob am Ende ein historisches Klavier den Weg in die Jurte findet, sei nicht verraten. Dafür muss man schon das Buch lesen - und das ist schlicht eines der besten Reise-Sachbücher der vergangenen Jahre. Es ist Sophy Roberts' erstes Buch. Die Journalistin studierte in Oxford und an der Columbia University, New York, sie arbeitet für große Magazine und Zeitungen. Zwei Dinge machen das Buch so bemerkenswert: Man lernt als Leser unglaublich viel, und Roberts schreibt packend und mit großer Empathie eine spannende Langreportage.
Klaviere in Sibirien also. Die Pianomanie der Zarenzeit verbreitete die westliche Kultur in Russland; bis in entlegene Ecken wurden Klaviere importiert. Auch die Dekabristen, frühe adlige Revolutionäre, trugen dazu bei. Ab 1825 nach Irkutsk am Baikalsee verbannt, brachten sie ihren Hausstand samt Klavieren mit. Tasteninstrumente wurden auch in großer Zahl hergestellt. Doch mit der Russischen Revolution war es damit vorbei. Klassische Musik war großbürgerlich, Klaviere wurden zerstört. Nach dem Zweiten Weltkrieg lieferte die staatliche Pianofabrik "Roter Oktober" Nachschub. Mit Sibirien verbindet man Verbannung, Tod und Verderben. Roberts weiß das alles und schreibt es auch. Aber sie erklärt auch das starke Bevölkerungswachstum in Sibirien in den 1930er-Jahren - sagenhafte 300 Prozent. Nach Sibirien kamen außer Zwangsarbeitern im Gulag vom Hunger getriebene Zuwanderer auf der Suche nach einem besseren Leben. Polen und weitere ethnische Gruppen, die deportiert wurden, sowie Russen, angelockt von den Industriestädten.
Roberts findet immer wieder neue Verweise auf alte Klaviere. Sie stöbert zahlreiche berühmte Instrumente zwischen dem Ural und der Insel Sachalin auf, stößt bei der Recherche auf einen ehemaligen Navigator der Aeroflot, der 41 Klaviere gesammelt und unter den Kindern in den Bergen verteilt haben soll, und macht ihn ausfindig. In Ust-Koksa, im Altai-Gebirge. Wo die Russen eine neue Gasleitung nach China bauen. Naturschützer werden dort streng beobachtet, "eine englische Schriftstellerin, die in dieser Gegend nach Klavieren herumstöberte, mochte verdächtig wirken". Sie reist mit Security. Denn Roberts ist keineswegs romantisch verloren in alten Zeiten. Ihr Buch verbindet die Historie mit der Gegenwart und mit Grausamkeiten der jüngeren Vergangenheit. Einmal schreibt sie: "Auch wenn mein Wunsch noch so stark war, meine Klaviersuche möge alles hervorheben, was an Sibirien großartig war, war doch vieles, wonach ich suchte, mit einer erschreckenden Vergangenheit verbunden." So steht sie kurz davor, das letzte Klavier der Zarenfamilie zu finden, auf dem die Töchter spielten, bevor alle grausam ermordet wurden. Dann gibt sie diese Suche auf. "Wie hätte solch ein Klavier je wieder singen können? Finde einfach ein Klavier mit einem reinen Klang, sagte ich mir, etwas Bescheidenes, Menschliches, Geliebtes." Manche Spur führt in die Irre. So bei den Nenzen im äußersten Norden. Ein Klavier habe es hier nie gegeben, wird ihr erklärt, "es hätte 20 Rentiere gebraucht, um ein Klavier durch die Tundra zu ziehen." Roberts reiste kreuz und quer durch Sibirien sowie nach Sankt Petersburg und Kamtschatka. Irgendwann resümiert sie, sie sei " . . . nicht wegen der Gewissheit hier, aber wegen der unwahrscheinlichen Möglichkeit, dass sich ein kleines Wunder ereignen könnte".
Sophy Roberts: Sibiriens vergessene Klaviere. Hanser, München, 26 Euro
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