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In seinem Krebstagebuch beschreibt Christoph Schlingensief ein Schicksal, an dem Millionen leiden. Wir lesen, wie es gelingen kann, die Erkrankung von außen zu betrachten.
Kann man diese Figur, diesen "Halligalli-Christoph" (Schlingensief über Schlingensief), mal einen Augenblick aus dem verschlingenden Betrieb lösen, in dem sie steht? Kann man einen Augenblick mal aufhören, über erlaubte und unerlaubte Inszenierungen zu reden (ein Christoph Schlingensief ist kein Dieter Althaus, ein Regisseur und Aktionskünstler kein Politiker)?
Kann man, mit anderen Worten, dieses Buch, dieses Tagebuch einer Krebserkrankung (Titel: "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!" bei Kiepenheuer & Witsch), wirken lassen als das, was es ist: als eine ganz unerhörte Art, "normal" über Krankheit und Tod zu sprechen. "Bis vor kurzem habe ich nur über die Wunde des Leben-Wollens und Sterben-Müssens geredet oder habe sie simuliert, indem ich irgendwelche Leute auf der Bühne oder vor der Kamera mit roter Farbe beschmissen habe. Diesmal ist der Kontakt authentisch gewesen." Der Krebs entfaltet in diesem Buch eine derart präsentische Wucht, dass man sich scheut zu sagen: Das ist ein Buch über die Themen Krankheit und Tod. Das ist kein Themenbuch, das ist ein Protokoll, das den Gesunden in die Defensive bringt. Denn der Gesunde bringt es fertig, Krankheit und Tod zu ignorieren. Er, der Gesunde, ist es, dem eine Lungenhälfte fehlt, wenn er sein Leben nicht vom Leiden her zu denken vermag - von der Möglichkeit her, nicht zu sein.
Schlingensief sagt das so: "Man kann versuchen, die Verblödung, mit der Krankheit, Leiden, Sterben und Tod in unserer Gesellschaft diskutiert wird, wenigstens im Kleinen ein wenig aufzuhalten. Denn gequatscht wird ja ununterbrochen, das ist ja gar nicht zu fassen, wie viel Blödsinn geredet und geschrieben wird übers Dahinvegetieren, über die Würde, die angeblich verlorengeht, wenn man nicht mehr allein scheißen gehen kann oder was weiß ich. Was sind denn das für armselige Vorstellungen von Freiheit und Würde? Man muss sich doch mal ernsthaft über den Begriff des Leidens Gedanken machen und sich fragen, was das eigentlich für ein Moment ist, an dem man wirklich leidet."
Wie nah alles beieinanderliegt: Verzweiflung, Pathos, Euphorie, große Töne spucken und niederdrückende Erwartung der Dämonen, Witz, unbändiger Witz. "Na gut, ich spucke jetzt große Töne. Wenn es mir morgen mit dem Darm wieder schlechter geht oder irgendetwas anderes passiert, dann werde ich bestimmt wieder genug Gründe haben, das anders zu sehen. Dass diese Stimmungen so nah beieinanderliegen, ist etwas, was zu begreifen unglaublich wichtig ist." Weil es jede einzelne dieser Stimmungen relativiert, wenn man weiß, dass sie gleich wieder umschlägt, dass es im Denken keine stabile Orientierung gibt. "Auf dass die kreisenden Gedanken endlich ihren Grund finden" heißt das Motto des Buches, und es scheint so, als verbuche Schlingensief dies als größten Gewinn seiner Krankheit: dass es ihm mitten im Taumel der Stimmungen und Gedanken gelingt, sich von der eigenen "Beurteilungsmaschine", die auf Hochtouren läuft, loszumachen.
Was tritt an ihre Stelle? Ein neuer Blick, der alles ansieht, als sehe er es zum ersten Mal: das Essen; die Freundin; die vielen verpassten und jetzt scharf in den Blick genommenen Gelegenheiten, "Sinnvolles" zu tun (das heruntergekommene Wort "Sinn" glänzt in diesem Buch als Vokabel, die Respekt gebietet und ein Sehnen auslöst). Schlingensiefs "Kampfschrift für die Autonomie des Kranken und gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens" liest sich wie ein brachialer Appell, aus der Narkose zu erwachen. Narkotisiert vom eigenen Bedeutungsgefühl; vom Panikgefühl, ins Nichts zurückzusinken; von der Anstrengung, auf der Lauer liegen zu müssen - Schlingensief lässt uns zusehen, wie er im Krankenhaus aus den Narkosen seines gesunden Lebens erwacht.
Die Einsichten, die er beim Aufwachen hat, sind anrührend undramatisch, bezwingend konkret: "Ich kann und muss aufhören, nur von mir auszugehen. All diese Fragen: Wozu soll mir das dienen? Was ist das? Was meinen die damit?, sind gar nicht wichtig. Das Thema ist: Was erlebt gerade Aino? Was erlebt gerade meine Mutter, oder was hat meine Mutter mit meinem Vater erlebt? Was erlebt Rosi mit Werner? Das sind alles Beziehungen, wo ich mal umdenken muss: Nicht der Leidende ist der, der eine Prüfung macht, sondern der, der auf den Leidenden trifft." Das wirkt nicht abgestanden, sondern so, als hätte man es noch nie gehört - ähnlich, wie Schlingensief von sich sagt, er schaue aus dem Fenster "und staune, als hätte ich noch nie Sonne und Wolken gesehen".
Und natürlich verkneift sich der Kranke nicht seine Inszenierungsphantasien. Für ein Filmprojekt ist ihm "schon ein toller Titel eingefallen: ,Ich gehe mit meiner Narbe spazieren im Wald'. Und dann machen wir Fotos, von mir und meinen Freunden, vielleicht auch nackt, ohne Scham, aber mit einem gewissen Pathos, was weiß ich." Man kann das sehr katholisch finden: dass die Dinge nicht rund gedacht werden, sondern mit einem "Was weiß ich?" zur Fülle finden. Welchem Theologen stünden nicht die Haare zu Berge, wenn hier "Jesus, Maria und Gott" (!) als die unverwüstlichen Schutzheiligen beschworen werden? Aber darauf kommt es nicht an, das Krebstagebuch ist kein Lebenskunst-Fibelchen mit wissenschaftlichem Beirat. Durch alle Blitze hindurch, die Schlingensief gegen Himmel und Hölle schleudert, wird doch klar: Dieser Mann steht nicht mit dem Rücken zur Wand, dieser Mann hat den Rücken frei. Er glaubt - und weiß selbstverständlich nicht, warum. Niemand kann so ehrfürchtig mit Gott Humbug treiben wie Schlingensief - auf der Bühne wie im Krankenhaus.
Wie es gehen kann, "die Erkrankung vor sich zu stellen, sie und sich selbst von außen zu betrachten", steht in diesem Krebstagebuch. "Vielleicht hilft es einigen, diese Aufzeichnungen zu lesen", schreibt der Autor im Vorwort. "Denn es geht hier nicht um ein besonderes Schicksal, sondern um eines unter Millionen." Ein Millionenschicksal, gewiss. Aber dieses Millionenschicksal hat nun eine Sprache gefunden, die keine klinische Sondersprache ist, sondern krachend, lachend und wimmernd den Schock in Worte fasst.
CHRISTIAN GEYER
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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