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"Eine zeitgenössische Fabel von eindringlicher Traurigkeit und melancholischer Schönheit." (The Sunday Telegraph)
John Banville beschwört das Gespenst seiner selbst herauf / Von Ingeborg Harms
Wer sagt, daß Midlife-Krisen depressiv sein müssen? Bei John Banville gestaltet sich das fünfzigste Jahr seines Erzählers Alexander Cleave als zweite Pubertät. Nachdem ihm die Sprache in einer "Amphitryon"-Aufführung den Dienst versagte, nimmt der Schauspieler von Beruf und Familie Reißaus, um sich notdürftig in seinem verwahrlosten Elternhaus einzurichten. Sein Entschluß gerät auch durch einen Spuk nicht ins Wanken, der sich regelmäßig in den alten Mauern zeigt. Dem Kleist-Leser sind die Ebenen von Wirklichkeit und Schein längst durcheinandergeraten. Mit einem an Hofmannsthals Lord Chandos erinnernden Staunen wendet er sich dem rätselhaften Sein der kleinen Dinge zu: "Was hatten sie nur an sich, die Alltäglichkeiten rings um mich herum, die ganz normalen Bilder, Geräusche und Gerüche der Stadt, was war es nur, das plötzlich in mir dieses Unerwartete, was es auch sein mochte, hatte erblühen lassen wie die Möglichkeit einer Antwort auf die vielen namenlosen Sehnsüchte meines Lebens?"
Banvilles Held zieht sich in eine Dachkammer zurück und beginnt zu schreiben. Er notiert Erinnerungen, erzählt von seiner Ehe und seiner Tochter, die Stimmen hört und von Tobsuchtsanfällen gepeinigt wird, und sinniert über einen kuriosen Hausgenossen, der sich mit seiner Tochter heimlich im Keller eingenistet hat. Dabei beweist Banvilles Held eine stupende Beobachtungsgabe. Seine Exkursionen durch Haus und Stadt sind von einem Traumzustand getragen, der das ihm Begegnende mit einer abgeklärten, durch und durch poetischen Objektivität in Worte faßt.
Während Cleave sich sonst in wechselnden und möglichst bedeutungsvollen Rollen gefiel, so fordern jetzt unscheinbare Phänomene sein Darstellungsvermögen heraus. Das Buch strotzt von Metaphern und Vergleichen, alles Sichtbare imitiert ein anderes, die ganze Welt wird in seiner Beschreibung zum Theater wechselseitiger Spiegelung. Daß Cleaves Frau den Telefonhörer unter das Kinn klemmt, "als wiege sie ein müdes Baby an der Schulter", und der Arzt den Schlußpunkt "wie einen Dolchstoß" unter einen Totenschein setzt, daß jemand ein Gesicht wie eine "knifflige Felswand nach Stellen zum Festhalten absucht" oder die Handschrift einer Fünfjährigen "kulleräugig" scheint - solche Aperçus inszenieren blitzlichthaft Korrespondenzen, die den Charakter der Dinge gerade in ihrer Uneigentlichheit offenbaren.
In gewisser Hinsicht hat Banvilles Protagonist sein Metier gar nicht verlassen, sondern dessen Prinzip der Nachahmung und Anverwandlung nur auf ein neues, allumfassendes Niveau gehoben: "Das Gegenwärtige hat etwas Angespanntes, Bebendes bekommen. Alles kann sich jede Sekunde auflösen. Und doch ist mir, als wäre ich dem Stoff, aus dem die Welt gemacht ist, in meinem ganzen Leben nie so nah gewesen". Seine Einsicht in die Gebrechlichkeit der Welt führt nicht nur zu einer Metaphernsprache, sondern auch zu einem sezierenden Stil, der scheinbar banale Szenen im Zeitlupentempo auseinandernimmt, jeden Eindruck mit präzisen Adjektiven analysiert und so eine surreale Schärfe erzeugt, wie sie aus der hellsichtigen Entfremdungsprosa eines Peter Weiss vertraut ist. Indem Cleaves chirurgischer Blick die Wirklichkeit in einem holzschnittartigen Schattenriß erstarren läßt, verwandelt er Lebendigkeit in Wahrheit und sichert seinen Gegenständen eine gespenstische Präsenz.
Der Titel des Buches, "Sonnenfinsternis", ergibt zunächst wenig Sinn. Zwar beginnt das dritte Kapitel mit der dramatischen Ankündigung: "Ich halte inne, wie es Chronistenpflicht ist, um das Herannahen eines großen Ereignisses zu vermelden. Es soll eine Sonnenfinsternis geben." Doch die rhetorische Pose nimmt den Leser auf den Arm: Im folgenden ist von dem kollektiven Spektakel kaum mehr die Rede. Auf subkutane Weise allerdings spielt die Verdunkelung durchaus eine Rolle: Schon im ersten Absatz vergleicht der Erzähler seinen neuen Zustand mit einer Verdeckung des Lichts durch einen "geflügelten Knaben oder einen fallenden Engel" - und stellt sich damit in den mythologischen Horizont von Luzifer und Hermes. Aufstieg und Abstieg bleiben für den Rest des Romans in der Schwebe.
So gleicht Cleaves Ich-Erschütterung der des von ihm mit so fatalen Folgen verkörperten Amphitryon, dem Jupiter als glänzenderes Alter ego die Existenz streitig macht. Während der Gott Alkmene in Gestalt ihres Gemahls heimsucht, zieht sich die Nacht bei Molière und Kleist in die Länge. Denn Jupiter hält die Sonne an, solange er genießt. Banville meint auch diese Finsternis, in der Glück und Schrecken, Gut und Böse sich die Waage halten, ein transzendentales Dunkel, in das er seinen Helden hinausstößt. Mit Cleaves Ahnungen, Rückblenden und Visionen beginnen sich Zeit und Raum aufzulösen. In ihnen nimmt der Roman die Katastrophe vorweg: den Selbstmord der schwangeren Tochter des Helden, die ihm mit ihrem Kind schon längst als gesichtsloser Geist erschienen war. Anfangs hat Cleave seine Erweckungsgefühle mit einer Schwangerschaft verglichen. Am Ende zeigt sich, daß er den Tod ausgetragen hat. Seine übersinnlichen Wahrnehmungen kartographierten ein Reich jenseits der irdischen Zwecke, eine Sprache der Dinge, die nur in völliger Losgelöstheit vernehmbar wird. Durchs Leben geistert er wie ein Wiedergänger, der nichts mehr zu verlieren hat und dabei an rauschhaften Einsichten erstaunlich gewinnt.
Banvilles Buch handelt von einer seltsamen Form der Trauerarbeit, einem prophetischen Abschiednehmen, das dem Unglück vorauseilt. Insofern diese Arbeit in einer an literarischen Anspielungen und Zitaten reichen Sprache stattfindet, hat der irische Autor die Aufgabe der Dichtung neu beschrieben: Sie bereitet den Toten einen Raum, in dem sie wohnen können.
John Banville: "Sonnenfinsternis". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Christa Schuenke. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 302 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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