Die Absonderlichkeiten des Lebens
Im Zentrum Leon de Winters neuen Romans „Stadt der Hunde“ begegnen wir einem älteren Neurochirurgen, Jaap aus Holland, einer Koryphäe auf seinem Gebiet, persönlich aber fragwürdig, emotional verschlossen, ein Frauenheld, der stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht
ist, der sich nicht in seine Mitmenschen einfühlen kann, seine Frau betrügt und sich seiner…mehrDie Absonderlichkeiten des Lebens
Im Zentrum Leon de Winters neuen Romans „Stadt der Hunde“ begegnen wir einem älteren Neurochirurgen, Jaap aus Holland, einer Koryphäe auf seinem Gebiet, persönlich aber fragwürdig, emotional verschlossen, ein Frauenheld, der stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist, der sich nicht in seine Mitmenschen einfühlen kann, seine Frau betrügt und sich seiner einzigen Tochter kaum widmet. Aufgrund verschiedener Umstände gerät sein Leben allerdings durcheinander, durch einen Schicksalsschlag verliert er das Einzige, was ihm wirklich etwas bedeutet und er setzt alles daran, seine Chance nach Wiedergutmachung zu nutzen und sein schlechtes Gewissen zu bezwingen. Die verlorene / verschwundene Tochter, der suchende Vater, die beiden Familien, die Trennung – eine wilde Mischung an Handlungssträngen, man sympathisiert mit den Figuren oder sie polarisieren, hat Verständnis, kann Emotionen nachvollziehen, die Figuren sind in jedem Fall gleich greifbar und immer etwas widersprüchlich wie im wahren Leben.
Durch einen weiteren Schlag in seinem Leben und der Erkenntnis der eigenen Fragilität und Vergänglichkeit beginnt er, die Vergangenheit zu reflektieren und sein Handeln zu hinterfragen - sein Verhalten als Mediziner, als Chef, als Liebhaber, als Vater, als Ehemann. Und wieder handelt er extrem rational, geht fast kaltblütig alle Möglichkeiten durch, will vorbereitet sein auf alle Eventualitäten: Er lässt ein Testament anfertigen, das von seiner Freundin unterschrieben wird, richtet eine Stiftung für junge Mediziner ein und will weiterhin alles veranlassen, sodass seine Tochter gefunden wird.
Eine weitere ironische Wendung des Schicksals, erst extremes Ärgernis und dann größtes Glück, bestimmt und verändert sein Leben und die Geschichte schlägt wieder eine ganz neue Richtung ein.
Der Roman ist aufregend, voller komischer, absurder Elemente, dann auch wieder emotional ergreifend. Ich bin begeistert!
Mir gefällt diese Vermischung der Ebenen, Wahn oder Realität, sind es Nachwirkungen einer OP, Halluzinationen, Träume, wird Jaap wieder im Hier und Jetzt aufwachen? Oder verschwindet er in einer irrealen Welt?
Diese unrealistischen Fantasien sind spannend, aufwühlend, wirken wie ein Drogentrip, eine Erweiterung des Bewusstseins, eine Traumreise, es hat etwas von Magischem Realismus, aber der Naturwissenschaftler Jaap hinterfragt selbst, ob dieser Irrsinn wahr sein kann.
Er hat jedenfalls nichts zu verlieren und lässt sich auf das größte "Abenteuer" seines Lebens ein, seine Möglichkeit sich der Vergangenheit zu stellen, Buße zu tun und seine Tochter wiederzusehen.
De Winter hat mich wieder einmal mitgerissen, ich bin in diese vielen Facetten mit Vergnügen eingestiegen - die eher wissenschaftlichen Erklärungen zu neurologischen Operationen, die Risiken, Vorbereitungen, Fragen, das Dilemma der Entscheidung für oder gegen eine fast aussichtslose OP, sein Unfall, seine Krankheit, dann eine verrückt-originelle Fahrt ans Ende der Welt, die Szene in seinem riesigen Haus, wo er die wichtigste Personen seines Lebens trifft, dann wieder die grotesken Situationen mit einem sprechenden Hund, eine philosophische Auseinandersetzung über den Sinn des Lebens, eine geplante Reise zum Rave, das mögliche Attentat, die Bejahung des Lebens und das Abschiednehmen und Loslassen und außerdem die politische Komponente des Nah-Ost-Konflikts.
Eine krude, verrückte Mischung aus Realität und Fantasie, bei der im Moment des Lesens erstmal nicht erschlossen werden kann, wie die Situation einzuordnen ist, beste Unterhaltung auf hohem Niveau - und das ist es, was ich an de Winters Romanen so schätze und weshalb ich mich immer wieder gerne darauf einlasse und mich in den Geschichten verliere.
Ich bin begeistert und habe die Lektüre uneingeschränkt genossen! Klare 5 Sterne