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© BÜCHERmagazin, Meike Dannenberg (md)
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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Ein Mordstheater: Alle reden von Emma Cline, alle warten auf ihren ersten Roman. Jetzt ist "The Girls" erschienen. Und?
Es ist schon zwei Jahre her, als plötzlich ihr Name auftauchte. Emma Cline, damals 25 Jahre alt, aufgewachsen im Norden Kaliforniens, hatte einen Roman geschrieben, "The Girls", suchte einen Verlag, und die amerikanischen Verleger rissen sich um sie, überboten sich mit immer neuen Angeboten. Emma Cline hatte an der Columbia University ihren Master of Fine Arts gemacht, war nach Brooklyn gezogen, in eine Hütte im Garten von Freunden, hatte Zeitschriftenartikel im "New Yorker" und in Oprah Winfreys Magazin "O" veröffentlicht und eine Erzählung in der "Paris Review", für die sie einen Preis bekam. Mehr wusste man nicht von ihr. Nur eben, dass es dieses Manuskript gab, einen Roman, in dem der Mörder Charles Manson eine Rolle spielen sollte oder eine Figur, die an ihn erinnerte. Dann kam der Vorschuss über zwei Millionen Dollar von Random House für einen Deal über drei Bücher. Und das neue Leben der Emma Cline konnte beginnen.
Erst vor ein paar Wochen ist "The Girls" in Amerika erschienen, nächste Woche folgt die deutsche Übersetzung im Hanser-Verlag. Die Autorin gibt gerade ein Interview nach dem anderen, Lena Dunham und Jennifer Egan sind vom Buch begeistert, Richard Ford, als Grandseigneur unter den Schriftstellern, findet den Roman "brillant und überwältigend". Für die britische "Vogue" ließ sich Emma Cline mit offenen rotblonden Haaren in bodenlangen plissierten Hippie-Seidenkleidern fotografieren, denn um die Hippie-Zeit geht es ja.
"The Girls" ist, jedenfalls auf den ersten Blick, ein historischer Roman, der im Jahr 1969 ein 14-jähriges Mädchen in die Fänge der Manson Family geraten lässt, jener sektenartigen Hippie-Kommune aus der Nähe von Los Angeles, die 1969 durch die Ermordung von Sharon Tate, Leno und Rosemary LaBianca und vier anderen weltberühmt wurde. Der charismatische Anführer und Verführer heißt im Roman nicht Manson. Er heißt Russell, "ein Typ wie Charles Manson", steht allerdings im Klappentext. Wir sollen an ihn denken, und jeder, der auch nur ein paar Details kennt, kann alles sofort zuordnen. Schnell ist klar, dass Dennis Wilson von der Band Beach Boys, den Manson 1968 kennenlernte, mit dem er Drogen nahm und sogar ein paar Lieder schrieb, im Roman Mitch heißt. Und dass Susan Atkins, eine glühende Anhängerin Mansons, die mit dem Blut von Sharon Tate das Wort "PIG" an die Haustür schrieb, das Vorbild für die Figur der Suzanne im Roman ist, ein Mädchen, in das sich die 14-jährige Erzählerin verliebt und deren Aufmerksamkeit sie um jeden Preis will.
Emma Cline hat die Manson-Literatur gelesen. Sie kennt Jeff Guinns Biographie oder das "Helter Skelter"-Buch von Vincent Bugliosi, das sie früh im Bücherschrank ihrer Eltern fand. "Ich komme aus Kalifornien, und auch meine Eltern kommen daher", hat sie gerade in einem Interview erzählt. "Sie waren Teenager, als diese Morde passierten, die das Leben für sie verändert haben und die, als ich aufwuchs, in Kalifornien irgendwie noch immer in der Luft lagen."
Trotzdem hat sie Russell in "The Girls" (das deutsche Buch heißt wie das englische) nicht zum Hauptdarsteller gemacht. Sie hat ihn an den Rand gedrängt, ihn in die Peripherie verbannt. Denn die Fallgeschichte, überhaupt die historische Wirklichkeit, ist gar nicht das, was sie in erster Linie interessiert. Worum es Emma Cline geht, ist eine eher überzeitliche Erzählung über die Sehnsüchte, Wünsche, die Verführbarkeit und Labilität eines 14-jährigen Mädchens, die sie, gerade weil in dieser speziellen Situation alles so deutlich zum Vorschein kommt, im Jahr 1969 in Kalifornien verankert. Was sie erzählt, ist die Geschichte eines Mädchens, dessen Eltern sich gerade getrennt haben, das sich nicht wahrgenommen fühlt, auch von ihrer besten Freundin nicht, und das dann den "Girls" begegnet, durch Zufall, an einem Sommertag. Sie haben lange, ungekämmte Haare, tragen ausgefranste Kleider, und sie gehören zu einem "Wir", um das Evie, die Erzählerin, sie beneidet.
"The Girls" ist deshalb vor allem ein psychologischer Roman, und dass Emma Cline ein besonderes psychologisches Gespür hat, beweist sie auf jeder Seite. Es ist überhaupt so, dass sich das ganze Buch sehr spannend liest, was daran liegt, dass man lesend immer voyeuristisch dabei ist. Mit den Augen Evies ist man dabei, als Suzanne ihr Russell vorstellt - und "Du bist da" zu ihr sagt, als hätte er auf sie gewartet. Man ist dabei, als er sie aus der Menschenmenge fischt, sie mit in seinen Wohnwagen nimmt und sie sexuell initiiert. Man verfolgt mit, wie er sie, zusammen mit Suzanne, zu Mitch schickt, damit beide Mädchen ihn nach Hause begleiten und mit ihm schlafen. Wie Evie immer mehr in das Leben auf der Ranch verwickelt wird, aber interessanterweise nie zu sehr. Von den Drogen hält sie sich weitgehend fern und nimmt die Unterwerfung auch nur in Kauf, um nahe bei Suzanne zu sein, nicht etwa, weil sie Russell hörig wäre.
Als die Mädchen schließlich in ein Haus einbrechen, deren Besitzer Evie schon ihr Leben lang kennt, und sie erwischt wird, ist die Zeit auf der Ranch erst mal zu Ende. Sie wird zu ihrem Vater nach Paolo Alto geschickt, keine Lösung, aber eine sichere Läuterung zwischendurch.
Emma Cline will ihre Figur dem Irrsinn Russells und dessen Gefolgschaft also nicht zu sehr ausliefern und sie trotzdem mit auf den Mord zusteuern lassen. Sie soll dabei sein und gleichzeitig auch nicht. Und genau das ist das erzählerische Problem dieses Romans, der mit der Manson-Geschichte immerzu die Extreme menschlicher Abgründe bereithält, aber aus der sicheren Komfortzone einer nicht ganz so sehr involvierten Erzählerin heraus. Den psychologischen Beobachtungen kommt diese Distanz bestimmt zugute, der erzählerischen Kraft aber nicht, weil auf diese Weise alles seltsam brav wirkt und, trotz der unterhaltsamen Lektüre, überhaupt keinen bleibenden Eindruck hinterlässt. So wie Evie, die Erzählerin, wird man auch lesend nicht wirklich beschmutzt, nicht richtig wider Willen verführt, man muss nichts riskieren, sondern ist einfach nur dabei und sieht zu. Und weil Emma Cline auch dort, wo der Tate-Mord geschieht, ihre Erzählerin nur halbherzig involviert, bleibt am Ende alles nur ein Gedankenspiel: "Vielleicht hätte auch ich etwas getan." Ja, klar, vielleicht.
So bewegt sich der Roman über einem Abgrund, ohne diesen wirklich spüren zu lassen - auch sprachlich nicht. In einer Kritik in der "New York Times" stand, Emma Cline schreibe Sätze, die so fein gedrechselt seien, dass man sie wie Schmuck tragen könnte. Ein zweifelhaftes Kompliment, das die Sache gut beschreibt: die adjektivlastige Beschaulichkeit, die harmlose Konventionalität einer Sprache, die genauso wenig ein Wagnis eingeht wie die Figur, die Emma Cline hier sprechen lässt: "Die einspurige Straße durch das Städtchen war von Wohnwagen gesäumt, deren Stellplätze sich wuchernd ausbreiteten - knatternde Windrädchen, Veranden, übersät mit gebleichten Bojen und Rettungsringen, der Dekoration bescheidender Menschen."
Oder: "Es war das Ende der Sechziger oder der Sommer vor dem Ende, und so kam es einem auch vor, wie ein endloser, formloser Sommer. Haight Ashbury bevölkert mit weißgewandeten Mitgliedern der Process Church, die ihre hafergelben Pamphlete verteilten, der an den Straßenrändern blühende Jasmin in jenem Jahr besonders duftend und voll. Jedermann war gesund, braungebrannt und schwer mit Schmuck behängt, und wenn nicht, dann war das auch schon was - man konnte irgendein Mondwesen mit Chiffon über den Lampenschirmen sein, bei einer Kitchari-Entgiftung, von der sämtliches Geschirr gelbe Kurkumaflecken bekam."
Es gibt Romane, in denen alles so explizit gemacht und psychologisch so viel erklärt wird, dass gar kein Spielraum bleibt, keine Lücken, keine Abgründe, die man lesend füllen könnte. Emma Clines "The Girls" ist so ein Roman.
JULIA ENCKE.
Emma Cline: "The Girls". Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Verlag Carl Hanser, 352 Seiten, 22 Euro
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