Theorien, Konzepte, kühne Ideen wie Einsteins Relativitätstheorie, so meinte der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper, sind wie Scheinwerfer, die es uns erst ermöglichen, in der Wüste der Dunkelheit, die uns umgibt, etwas wahrzunehmen. Manches Licht wird jedoch im Laufe der Jahre blaß oder der
Lichtkegel wird derart eng, daß Wesentliches oder Gefahrvolles im Schatten verbleibt. Eine Theorie kann…mehrTheorien, Konzepte, kühne Ideen wie Einsteins Relativitätstheorie, so meinte der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper, sind wie Scheinwerfer, die es uns erst ermöglichen, in der Wüste der Dunkelheit, die uns umgibt, etwas wahrzunehmen. Manches Licht wird jedoch im Laufe der Jahre blaß oder der Lichtkegel wird derart eng, daß Wesentliches oder Gefahrvolles im Schatten verbleibt. Eine Theorie kann schal und alt werden, ihre Energie und Kraft, Neues zu erkennen, verlieren, ja sie kann sogar den Fortschritt behindern (»blocking progress«). In dem sehr anregenden Reader "This Idea Must Die" wurden 175 exponierte Forscher aus einem breiten wissenschaftlichen Spektrum von der Mathematik und Physik über die Medizin und Psychologie bis zur Linguistik und Philosophie versammelt, um auf durchschnittlich 4 Seiten konzise zu begründen, weshalb manche Idee in Rente geschickt oder gar der assistierten Sterbehilfe überantwortet werden sollte. Auf 540 Seiten kommen da einige (nach Ansicht der Autoren) stumpf gewordene Werkzeuge des Denkens unter die Räder: teils solche, von denen man es schon vermutete wie das »IQ«-Konzept, der »radikale Behaviorismus« oder der »Malthusianismus«, andere, denen man gern noch eine gewisse Zukunft zugestanden hätte wie etwa dem »Altruismus« oder aus umweltpolitischen und -pädagogischen Gründen dem »CO2-Fußabdruck«. Einige weitere Beispiele für Theorien, Naturgesetze und Hypothesen, welche die Autoren gern dem Friedhof überlassen würden, sind: »Statistische Signifikanz«, »Standardabweichung«, »Raumzeit«, »Evidence-based Medicine«, »Neuronale Korrelate des Bewußtseins« oder das Konzept des »Freien Willens«, das »Rationale Individuum« (der Wirtschaftswissenschaften) und das populäre Gerede von »linker vs. rechter Gehirnhälfte«.
Sympathisch macht den Reader, daß auch Autoren zu Wort kommen, welche die Totgesagten noch nicht dem Krematorium übergeben wollen, von der Wissenschaft (allein) keine Maximierung unseres Glücks erwarten oder wie der Schriftsteller Ian McEwan die ganze Begräbnisgesellschaft für eine Ansammlung arroganter Besserwisser halten. Ernsthafte Theorien, auch solche, die sich später als falsch herausstellten, seien es wert, als Erbe der Menschheit im Gedächtnis bewahrt zu werden. Weder Shakespeare noch Bacon auf den Müllhaufen der Geschichte!
Mit Hilfe des ausführlichen Namen- und Sachregisters kann jeder sich seinen Interessen gemäss bevorzugte Themen herauspicken. Ein gelungeneres Kompendium über Tendenzen der gegenwärtigen Wissenschaften (der englischsprachigen Welt), das auch vom interessierten Laien verstanden werden kann, wird man schwerlich finden. Es handelt sich um den jüngsten Band einer Reihe, die sich der Idee der »Third Culture« verpflichtet fühlt, über die man sich unter edge.org näher informieren kann.