Falsche Wahl
Ich hatte etwas anderes erwartet, als ich das Buch „Trost“ von Madeleine Hofman las, nicht in erster Linie ihre Geschichte als Krebspatientin, die sie veranlasste Trost an den unterschiedlichsten Stellen im Hier und Jetzt zu suchen. Ich hatte mir eher auch eine Auseinandersetzung mit
der langen Geschichte der Trostliteratur in Religion und Philosophie erhofft, die neu belebt wird für…mehrFalsche Wahl
Ich hatte etwas anderes erwartet, als ich das Buch „Trost“ von Madeleine Hofman las, nicht in erster Linie ihre Geschichte als Krebspatientin, die sie veranlasste Trost an den unterschiedlichsten Stellen im Hier und Jetzt zu suchen. Ich hatte mir eher auch eine Auseinandersetzung mit der langen Geschichte der Trostliteratur in Religion und Philosophie erhofft, die neu belebt wird für die Gegenwart. Doch stattdessen sind die Quellen für Trost hier für mich häufig zweifelhaft: Sitcoms, Biografien von krisengeplagten Stars, aber auch Künstler:Innen oder Wissenschaflter:Innen, die Lifestyle-Trends nachspüren oder -forschen: Achtsamkeit, Selbstfürsorge, Waldbaden und die immer gleich gehörten Modewörter.
Die Erkenntnis ist dementsprechend schlicht: Trost ist individuell, ist überall und nirgends zu finden, in Worten, in der Musik, in der Gesellschaft, in der Einsamkeit, in der Fiktion, in der Realität. Er ist nicht konstant – wie sollte er auch, da Leben nicht konstant verlaufen – sondern muss immer neu gesucht werden.
So sei es, aber fast ärgerlich finde ich, dass unter den meisten dieser life-stylischen Trostansätze, die in dem Buch bunt durcheinandergewürfelt und redundant angeführt werden, da das Buch keine Systematik des Trostes bietet, sondern durch die „Systematik der Krankheit“ der Autorin strukturiert ist, die wirklich erschütternden Ereignisse wie Tod als Resultat einer Krankheit, Kinderlosigkeit als Konsequenz einer medizinischen Behandlung, Verlust von Beruf, Zukunftsperspektive, Angehörigen, Heimat usw.usf. irgendwie verschütt gehen. Und dass die Trostansätze sehr häufig auf einer privilegierten Lebensweise beruhen, die es ermöglicht, Tage auf dem Sofa vor den 10 Staffeln „Friends“ zu verbringen, nach Italien zu reisen, auf Sizilien Kochkurse zu besuchen, zweimal im Jahr ans Meer zu verreisen, eine Ausbildung via online-Tutorial zu Waldbademeisterin zu machen. Die Autorin hat Schlimmes erlebt und durchlitten und mir selbst ist mein Empfinden beim Lesen dieses Buches unangenehm. Das beschriebene Leid im Buch hat meine volle Sympathie, aber die Trostlösungen, die hier angeboten werden, finde ich ob der vielen Leidgeschichten in der Welt bisweilen etwas seicht und selbstbezogen. Für mich verdeutlicht dies besonders folgende Passage aus dem Buch: Die Autorin zitiert aus dem Buch der Reporterin Ronja Wurmb-Seibel, die auch aus Afghanistan berichtete. Über das Schicksal des Landes durch die Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 empfindet sie große Trauer und „bedankt sich für die Unterstützung, die sie in dieser Zeit aus ihrem Umfeld erfahren hat“ (Anmerkung: Sie befand sich zu dieser Zeit nicht mehr vor Ort.): „zuhören, im Arm halten, zusammen weinen, ans Meer wandern, […] Tee bringen, Essen kochen, Tränen trocknen, Musik aufdrehen.“ Ist die Frage zynisch, ob dies insbesondere den Frauen in Afghanistan auch als Trost gereicht hätte?
Hat sich der Mensch heute so sehr von seinem Menschsein entfremdet, dass er eine wissenschaftliche Theorie des „Waldbadens“ braucht, um die wohltuende Wirkung eines einfachen Spaziergangs zwischen Bäumen zu begreifen, einen Studiengang, der ihm in medizinischen und seelsorgerlichen Berufen beibringt, wie Zuhören geht, dass ich bei einem Gespräch mit einem Krebskranken, der mir sein Leid klagt, nicht an meine unbeantworteten Emails oder den Einkaufszettel fürs Abendbrot denke? Wenn dem so ist, dann brauchen wir folglich das vorliegende Buch und können getrost die Lektüre von Seneca, Boethius und Co. für Fortgeschrittene in den verstaubten Bücherschränken lassen.