Japan hat eine ausgeprägte Schriftkultur. Das zeigt sich nicht nur in der Kunstform der Kaligrafie, sondern in einer generellen Wertschätzung von allem Geschriebenen. Man wirft schriftliche Zeugnisse vergangener Zeiten nicht weg. Genau aus diesem Grund sind auch die Briefe von Tsuneno erhalten
geblieben, die im Jahr 1801 als Tochter eines Tempelpriesters in der schneereichen Provinz Echigo geboren…mehrJapan hat eine ausgeprägte Schriftkultur. Das zeigt sich nicht nur in der Kunstform der Kaligrafie, sondern in einer generellen Wertschätzung von allem Geschriebenen. Man wirft schriftliche Zeugnisse vergangener Zeiten nicht weg. Genau aus diesem Grund sind auch die Briefe von Tsuneno erhalten geblieben, die im Jahr 1801 als Tochter eines Tempelpriesters in der schneereichen Provinz Echigo geboren wurde. Sie wurde noch als Kind verheiratet, zeigte aber früh ein sehr selbstbestimmtes und nicht regelkonformes Verhalten. Insgesamt heiratete sie fünf Mal, in keiner Ehe wurde sie glücklich.
Das besondere an ihrem Lebenslauf ist, dass sie sich zu einem Zeitpunkt entscheidet, der Provinz den Rücken zu kehren und gegen den Willen der Familie nach Edo auszuwandern. Dort ist bei weitem nicht alles Gold, was glänzt und sie muss sich über Jahre hinweg mit niederen Tätigkeiten durchschlagen. Aus dieser Zeit stammen die meisten Briefe, die sie ihrem Bruder in Echigo als neuem Oberpriester am Familientempel schickte. Sie sind sowohl gesellschaftlich als auch kulturhistorisch heute hochinteressante Quellen aus einer der gewaltigsten Umbruchphasen in der japanischen Geschichte. Es ist die Zeit der Perry-Expedition, die auf ein feudales und militärisch völlig unvorbereitetes Japan trifft und den freien Handel mit dem Westen erzwingt. Als Nebeneffekt wird die Samuraiherrschaft untergehen und genau diesen zunächst schleichenden Untergang erlebt Tsuneno in Edo hautnah mit.
Die Briefe liefern Amy Stanley allerdings nur den Rahmen, der Ausgangspunkt für die unterschiedlichsten Betrachtungsweisen auf Land und Leute ist. Mit großer Erzählfreude und Sachkunde ermöglicht sie Einblicke in das Leben der einfachen Leute, genauso wie in das der Samurai unterschiedlicher Rangstufen. Ferner beleuchtet sie die Organisation des Alltags, die Nöte der Arbeiter, aber vor allem auch das Leben der Frauen, die in der offiziellen japanischen Geschichtsschreibung meist nur Randfiguren sind. Tsuneno bietet durch ihre offenen Briefe und selbstbewusste Haltung einen seltenen Einblick in diese Welt. Sie zeigen aber auch, dass die in Japan auch heute noch propagierte „Harmonie“ in der Gesellschaft damals wie heute eine Utopie war und ist. Streitigkeiten werden zwar subtil ausgefochten, aber nicht minder wirkungsvoll und brutal. Tsuneno verstößt gegen viele Regeln, aber sie behauptet sich letzten Endes doch.
Eindrucksvoll war für mich das Detailwissen Stanleys über die kleinen Dinge des Alltags und die Organisation der Shogun-Stadt Edo. Obwohl ich mich mit dem Thema schon lange beschäftige, waren doch viele Elemente dabei, die mein Bild komplettiert haben und die lebendige Art der Schilderung ist wirklich einzigartig. Eines der besten Bücher über das Japan der Zeit zwischen 1800 und 1850, das ich persönlich kenne.
(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)