Ein prall gefülltes Füllhorn an Eindrücken und noch sehr viel mehr
„Wo waren sie jetzt nochmal genau? Wo auf der Karte, die seine Mutter am Abend vor der Abreise in ihrem Zimmer ausgebreitet hatte, an welchem Punkt der grob nachgezeichneten Strecke? Er war verwirrt.“
Der 12jährige
Vadim, Spross einer russisch-jüdischen Familie, ist mit einer Schwester unterwegs von Paris, das wegen…mehrEin prall gefülltes Füllhorn an Eindrücken und noch sehr viel mehr
„Wo waren sie jetzt nochmal genau? Wo auf der Karte, die seine Mutter am Abend vor der Abreise in ihrem Zimmer ausgebreitet hatte, an welchem Punkt der grob nachgezeichneten Strecke? Er war verwirrt.“
Der 12jährige Vadim, Spross einer russisch-jüdischen Familie, ist mit einer Schwester unterwegs von Paris, das wegen des drohenden Krieges immer unsicherer wird, hinauf in ein abgelegenes Tal, das an der Grenze zur Schweiz liegt. Und nun hält der Zug, zwei Stationen zu früh. Eine Lawine macht die Strecke unpassierbar. Nur gut, dass der Mann, der ihn abholt, hier auf ihn wartet, denn Lawinenabgänge sind nichts ungewöhnliches, sodass er dementsprechend früher losgegangen ist.
Vincent? sagt der Mann zu ihm. Nun, an diesen Namen muss Vadim sich erst noch gewöhnen, denn von nun an ist er Vincent und die gute Bergluft ist es, die ihm, dem Asthmatiker, gut tut. Er kann wieder frei atmen.
Für Vincent ist alles neu, alles ungewohnt. Er kommt im tiefsten Winter an, solch meterhohe Schneemassen kennt er nicht. Die Familie, die ihn aufnimmt, begegnet ihm liebevoll und warmherzig, auch die Dorfbewohner zeigen ihm ihre Welt, bald fühlt er sich heimisch, er entdeckt jeden Tag Neues. Er lernt, mit der Natur zu leben.
Sehen, schmecken, riechen, fühlen, hören – mit allen Sinnen nimmt er sein Umfeld in sich auf und wir, die Leser, mit ihm. Der Übergang vom Winter in den Frühling, der Wechsel der Jahreszeiten ist so eindringlich, so intensiv beschrieben – es ist ein prall gefülltes Füllhorn an Eindrücken. Vincent zeichnet gerne, er braucht allerdings lange, bis er die Welt da draußen nachbilden kann, denn diese für ihn so ungewohnten Dimensionen vereinnahmen ihn zunächst komplett. Die Berge ringsum, die Pflanzen und die Tierwelt sind so vielfältig, er sieht die Gegenstände in Farben, er spürt Verlust und Neugeburt – er erlebt so fast ein Jahr im Wandel der Zeit.
Neben den so eindrucksstarken Bildern der Berge, die sich um den aus Vincents Sicht fernen Mont Blanc gruppieren, sind es die vielfältigen Naturbeschreibungen und das einfache Leben in dem abgelegenen Bergdorf, die diesen Roman so lesenswert machen. Hier helfen alle zusammen, auch die Kinder packen mit an. Jeder hat seine Aufgabe, denn sie wissen um die Kraft der Dorfgemeinschaft.
Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges beschreibt Valentine Goby das Leben auf einem Bergdorf. Trotzdem sie hart arbeiten müssen, sind sie zufrieden und zwischendurch genießen ihre kleinen Fluchten vom Alltag. „Über allen Bergen“ ist ein ganz besonderes Buch, eine wundervoll erzählte Geschichte, die mich begeistert, aber auch nachdenklich zurücklässt. Absolut lesenswert.