„Wir bewegten uns, die Gerade-noch-Lebenden vorbei an den Toten, die im Straßenrand aufgereiht lagen.“
Ein bewegender Roman, „Überreste“ von Daryll Delgado, aus dem Philippinischen übersetzt, der sich mit dem Unglück und den Folgen einer Naturkatastrophe beschäftigt.
2013 traf der Taifun
Haiyan auf die Philippinen, einer der schlimmsten Wirbelstürme, die je registiert wurden. Tacloban, Stadt…mehr„Wir bewegten uns, die Gerade-noch-Lebenden vorbei an den Toten, die im Straßenrand aufgereiht lagen.“
Ein bewegender Roman, „Überreste“ von Daryll Delgado, aus dem Philippinischen übersetzt, der sich mit dem Unglück und den Folgen einer Naturkatastrophe beschäftigt.
2013 traf der Taifun Haiyan auf die Philippinen, einer der schlimmsten Wirbelstürme, die je registiert wurden. Tacloban, Stadt der Insel Leyte, die selbst stark zerstört wurde, steht im Zentrum des Geschehens. Reale Zeugenberichte wechseln sich mit der Erzählung ab, bei der Ann, Journalistin. Ich-Erzählerin und Hauptfigur zwischen der Gegenwart, der Zeit nach der Katastrophe, und der Vergangenheit, in der sie als glückliches, privilegiertes Kind einer einflussreichen und angesehenen Familie in Tacloban in einer großen Villa mit Schwester Alice, Eltern, Dienstboten und jeglichem Komfort gelebt hat, hin- und herwechselt.
Ann ist eine komplexe Figur, der es immer schwerer fällt, ihrer Rolle als objektive Beobachterin, als Reporterin gerecht zu werden. Durch eine private Mission ist sie nicht mehr neutral und sie verfängt sich immer stärker in ihre komplizierte Familiengeschichte. Für eine Doku sammelt sie Informationen, recherchiert, zeichnet Interviews mit Überlebenden auf, andererseits ist sie privat involviert und beschäftigt sich mit den Wurzeln ihrer Herkunft. Ein Interessenskonflikt entsteht: Journalismus versus persönlichem Interesse, die Grenzen von objektiver Recherche werden aufgezeigt und Ann schafft es kaum, ein Gleichgewicht zu finden. Die Schatten ihrer Vergangenheit bedrohen und verunsichern sie. Die Zerrissenheit der Stadt entspricht der Zerrissenheit der Figur Anns: die Privilegien der eigenen Klasse, Familientraumata, Klassenunterschiede, alte Seilschaften, Mythen und ungeklärte Geheimnisse.
Eine sehr gekonnte Verknüpfung von realen Schrecken und einer psychologisch dichten Verarbeitung von Traumata – Fiktion und Realität treffen aufeinander und lassen den Roman zu etwas Besonderem werden.
Eine weitere Auffälligkeit ist die sprachliche Verwendung der Muttersprache Delgados, Warai. Immer wieder tauchen Sequenzen oder einzelne Wörter in Warai auf, die am Ende des Romans übersetzt werden. Man muss aber nicht notwendigerweise die Übersetzung simultan nachlesen, der Flow, der Sound reichen aus, die Leser sollen die fremde Sprache erleben, Ausdrucksform der Figuren, Teil der Charaktere, so Delgado im Interview. Die Figuren sollen sprechen und denken wie Warai-Sprecher. Aber wer hat eine Stimme? Wer hat das Recht, seine Geschichte zu erzählen? Wer hat überlebt? Und welche Geschichte und welche Bilder werden in das Bewusstsein der Überlebenden dringen?
Ein eindrücklicher Roman, bei dem sich die große, existenzielle Naturkatastrophe mit dem persönlichen, intimen Schicksal mischt und von einer Welt erzählt, die uns auf den ersten Blick fremd und fern erscheint, aber durch die allgemeingültigen Erlebnisse von Verlust, Todesangst und Überlebenswillen doch so sehr berührt. Ein besonderes Lesehighlight!