»Wenn ein Mensch stirbt, verschwindet das Wasser nicht. Es verdunstet in die Welt, wenn er verbrannt wird. Es sickert in den Boden, wenn er begraben wird. Es regnet ab, es nährt die Pflanzen und andere Lebewesen. Es wird zu anderen Körpern, findet sich in einer Eizelle, in einem Auge, im Herzen, im
Hirn. Von jemand anderem. Der Mensch geht, das Wasser bleibt in dieser Welt.« |342
Vordergründig…mehr»Wenn ein Mensch stirbt, verschwindet das Wasser nicht. Es verdunstet in die Welt, wenn er verbrannt wird. Es sickert in den Boden, wenn er begraben wird. Es regnet ab, es nährt die Pflanzen und andere Lebewesen. Es wird zu anderen Körpern, findet sich in einer Eizelle, in einem Auge, im Herzen, im Hirn. Von jemand anderem. Der Mensch geht, das Wasser bleibt in dieser Welt.« |342
Vordergründig ist »Vaters Meer« eine laut hallende Liebeserklärung an den verschwindenden Vater und eine hintergründig tragende Liebeserklärung an die Mutter. Schlicht und elegant erzählt es die Geschichte von Yunus, der als Kind zweier stolzer aus dem Südosten der Türkei eingewanderter Eltern in Hannover aufwuchs. Die Geschichten, Konflikte und Beziehungen der Eltern streifen ihn, zerrieseln wie Sand, doch für den kindlichen Yunus fügen sie sich in der Unendlichkeit des weit entfernten eigenen Erwachsenseins. Als der Vater nach zwei Schlaganfällen plötzlich ins Koma fällt und viele Jahre im Locked-In-Syndrom nur die Augen bewegen kann, beginnt Yunus sich seiner selbst bewusst zu werden. Den gefüllten Leerstellen des Vaters beginnt er Imaginationen, Geschichten und Selbsterzählungen hinzuzufügen. Er sucht sich in der Seele seines Vaters, erschafft ein kohärentes Bild, balanciert auf Brüchen und Irritationen, während die Erzählstimme das eigene Tun und die Interpretationen in Frage stellt.
»Ich habe es mit mehreren Vätern zu tun: dem Verstorbenen, dem imaginierten und seinem Geist. Der Geist bestärkt mich in meinen Versuchen, Vater zu gedenken, ihn zu treffen in seiner Vergangenheit, in die ich reise, aber er ist auch leicht gekränkt, zeig meine Imagination ihn in düsterem Licht. Bisher kehrt er dennoch zurück. Der verstorbene Vater gibt mir Orientierung. Der Mensch, den ich mir vorstelle, die Imagination ist eher mein Kind als umgekehrt.« |317
Während sich die Suchbewegungen und Gedanken des Protagonisten permanent um den Vater drehen, webt sich in einer weiblich-mütterlichen Hintergründigkeit die Mutter ein; eine beeindruckende und leidende Figur, die eine Kulisse bildet, deren Kraft und Potenzial immer drängender auf die Bühne tritt.
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»In dieser Ewigkeit im Weltall suchte ich meinen Vater. Ich traf meine Mutter. Ich sah sie, sie sah mich nicht. Sie war allein. Sie kämpfte.«|228
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Über den Zungenschlag der Kritik an Utlus Romanauszügen auf den 47. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt möchte ich nicht sprechen. Ich muss aber sagen, auch mir ging es so, dass der vorgetragene Auszug mich nicht sonderlich beeindruckte, vielleicht auch enttäuschte. Denn die Tiefe des Romans konnte ich nicht erspüren. »Vaters Meer« ist ein Text, der über die Länge funktioniert, der Seite um Seite braucht, um sich zu entfalten, der zuerst die vordergründige Geschichte vernehmen lässt und dann den Einstieg bietet in universelle Fragen von Menschwerdung, der Rolle von Eltern und Herkünften, sowie der Emanzipation von diesen. »Vaters Meer« ist ein großer Roman, der Beachtung findet und erstaunlicherweise bisher an den großen Preisen vorbeigekommen ist. Eine Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises wäre mehr als verdient gewesen.