Eine intensive, feministische Auseinandersetzung anhand von vier weiblichen Charakteren in den 1920er Jahren
Der in den Jahren 1928/29 verfasste, bislang unveröffentlichte Roman der Autorin wurde 2023 im Verlag „Das vergessene Buch“ erstmals anhand der Original-Typografie, und nun in ungeänderter
Form als Taschenbuch im btb-Verlag veröffentlicht.
Die Ich-Erzählerin berichtet von vier Frauen,…mehrEine intensive, feministische Auseinandersetzung anhand von vier weiblichen Charakteren in den 1920er Jahren
Der in den Jahren 1928/29 verfasste, bislang unveröffentlichte Roman der Autorin wurde 2023 im Verlag „Das vergessene Buch“ erstmals anhand der Original-Typografie, und nun in ungeänderter Form als Taschenbuch im btb-Verlag veröffentlicht.
Die Ich-Erzählerin berichtet von vier Frauen, denen die Unterschiede zueinander stärker verbindet, als sie wahrhaben. Die Erzählerin selbst berichtet natürlich von sich, beginnt damit, wie sie als zwölfjährige biologisch zur Frau wurde – nicht direkt, aber in Andeutungen. Sie ist sehr sensitiv, versucht sich in ihrer eigenen Welt zurechtzufinden, doch der Blick auf ihre Freundinnen nagt an ihrer Zellwand.
Grete, eine behütete Tochter eines Professors mit hellem, durchscheinenden Teint, verletzbar. Anette ist sinnlich, hübsch, erscheint freizügig, um nicht zu sagen frech. Und Ulla wird als unattraktiv beschrieben, dafür als äußerst klug.
Es sind verschiedenste Eigenschaften von vier Frauen, die sich in einer männerdominierten Welt behaupten wollen und müssen. Die Erzählerin sieht mit lachendem und weinenden Augen auf ihre drei Freundinnen, die sich durch die Zwanzigerjahre kämpfen. Vieles möchte sie haben, was die anderen haben, manches nicht. Sie schreibt es auf, oftmals in Rückblicken, manchmal forsch, manchmal peinlich berührt von ihrer eigenen Gedankenwelt. Sensitiv und mauernd. Beides steckt in ihr. Und vor allem eines: der Drang, der ungeheuerliche Druck zur Selbstverwirklichung. Doch die Schranken der Gesellschaft sind stark. Die Themen wie Liebschaften, Untreue, Eifersucht, oder Schwangerschaftsabbrüche beherrschen den Roman. Die Gedanken wild und sprunghaft – und genau so präsentiert die Autorin die Welt der Erzählerin. Wenn sie sich schon selbst nicht im klaren ist, was die Welt für eine heranwachsende Frau nach dem Krieg bereithält, wie kann, ja wie dürfen es dann die Leser*innen wissen. Und noch dazu mit dem Hintergrund der politischen Wirren in jenen Jahren und das Erstarken der Nationalsozialisten.
Die erste Hälfte des Buches war tatsächlich ein wenig wirr. Man hüpft von einem Gedankensplitter zum nächsten wie ein flatternder Schmetterling von einer Blüte zur anderen. Erst in der zweiten Hälfte verdichtet sich die Erzählweise mehr und mehr zu einer Gesellschaftsstudie.
Aus einer inneren Zerrissenheit manifestiert sich mehr und mehr die Gewissheit, dem Patriarchat ausgeliefert zu sein.
Es ist eine Suche nach dem eigenen Ich in der damaligen Zeit. Die Versuche der Selbstbestimmung gehen ihre Wege, der Titel könnte mit den vier Protagonistinnen nicht treffender sein.
Auch die wiederkehrenden Szenen mit verschiedenen Spiegeln, in denen sich die Erzählerin sieht und das Abbild als „Fremde“ betitelt, begleiten das Buch. Meist treten sie ein, wenn unliebsame Begebenheiten auftauchen und können tiefenpsychologisch erklärt werden. Das Unbewusste frisst sich irgendwann durch, von Innen nach Außen. Vom Denken ins Handeln.
Es ist ein sehr intensives Buch, für das man sich ruhige Minuten gönnen soll, um es in der ganzen Tiefe mit Genuss erfassen zu können. Sehr gerne gebe ich eine Leseempfehlung.