»Versuche ich zu schreiben, ist es als würde ich einzelne Stücke zusammen nähen. Schreibe ich über das Lachen meines Vaters, wenn er vom türkischen Gefängnis erzählt, schreibe ich über meinen Lachen, wenn eine Freundin mich fragt, wie die Situation für die Êzîden gerade sei, bringe ich das eine mit
dem anderen in Verbindung... Ich trenne die Nähte wieder auf und fange von vorne…mehr»Versuche ich zu schreiben, ist es als würde ich einzelne Stücke zusammen nähen. Schreibe ich über das Lachen meines Vaters, wenn er vom türkischen Gefängnis erzählt, schreibe ich über meinen Lachen, wenn eine Freundin mich fragt, wie die Situation für die Êzîden gerade sei, bringe ich das eine mit dem anderen in Verbindung... Ich trenne die Nähte wieder auf und fange von vorne an.«
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»Vierundsiebzig« nimmt die Welt auf von einer Frau, der Protagonistin, des Autorin-Ichs, das voll ist von kurdisch-êzîdischen Geschichten, das sich kreist um den vierundsiebzigsten G3nozid an der êzîdischen Bevölkerung in Shingal.
Von einer Figur, die sich identifiziert mit ihrem êzîdischen Vater, seiner brüchigen Identität, in Abstand und Nähe, in einem êzîdischen Blick. Von einer Figur, die die Taten von IS-Angehörigen benennt und keine Nähe sucht zu Täter:innen, die sich doch beschäftigt mit der angeklagten Jennifer W., die ihren Blick wendet zu den Opfern wie Frau B. und Reda, erst 5. Von einer Figur, die reist, spricht, besucht, recherchiert, die sich ihr Verständnis, ihre Verständigung und ihr permanentes reflektieren des eigenen Dazwischenstehens erschreibt, in einem verdichteten Drang.
Von einer Autorin, Lyrikerin, Journalistin, Deutschen, Ězîdin, Denkerin und Kämpferin die einen hybriden Text erschafft, der fließt und immer wieder leise wird, verstummt, nach Worten sucht, dessen zentrales Moment die Sprachlosigkeit bleibt. Von einer Geschichte, die sich nicht klassisch aufbaut, die sich anreichert, Schicht um Schicht. Von einem Text, der fast überquillt, der einen repetetiven Rhythmus findet, mit wiederkehrenden Motiven und einem Kreisen, das untypisch ist für 500 Seiten. Von einem Langgedicht in Prosaform, einer journalistischen, dokumentarischen (Auto)Fiktion, einem innovativen Text, der Raum braucht und sich legen muss, der scheinbar das Wissen und den Verstand anspricht, sich jedoch tiefer zu verankert sucht.
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Höre ich das Wort Êzîden, denke ich an Êzîden, denke ich an Ronya Othmann, denke ich an »Vierundsiebzig«, denke ich an Shingal, denke ich Reda, denke ich an Êzîden und das ist mehr, als eine Story, ein Kommentar, ein Artikel, ein Bericht, eine Reportage oder eine sachbuchartige Veröffentlichung zu erreichen vermag. Ich bin gespannt, ob es für den Deutschen Buchpreis eingereicht wird und wie weit es da kommen könnte.