Ein höchst lesenswertes Buch über eine Sache, die wir von uns selbst nicht sehen und die uns doch kennzeichnet wie nichts anderes: das eigene Gesicht.
Christoph Lichtenberg beschrieb das menschliche Antlitz als die unterhaltsamste Fläche der Erde. So startet dieses Buch und möchte die
geheimnisvolle Welt der Gesichter erhellen. „Vom ersten Kinderlachen bis zum zerfurchten Greisengesicht, vom…mehrEin höchst lesenswertes Buch über eine Sache, die wir von uns selbst nicht sehen und die uns doch kennzeichnet wie nichts anderes: das eigene Gesicht.
Christoph Lichtenberg beschrieb das menschliche Antlitz als die unterhaltsamste Fläche der Erde. So startet dieses Buch und möchte die geheimnisvolle Welt der Gesichter erhellen. „Vom ersten Kinderlachen bis zum zerfurchten Greisengesicht, vom beglückten Strahlen bis zur Schmerzensfratze ist das Gesicht die Bühne für unsere Gefühle.“
„Big Nose“ nannte der Vater den eigenen Sohn Michael Jackson. Sein Irrweg weg vom Schwarzsein hin zu einem peinlich entstellten Gesicht und kleiner Nase war für die ganze Welt täglich nachvollziehbar und die Ablehnung seiner selbst drückte auch die Ablehnung der schwarzen Identität aus.
Wie sieht man sich selbst, vor dem Spiegel, der Kamera unter Freunden? Das big smile der Amerikaner wird bei uns als oberflächlich empfunden. Wissen wir, dass dieses Lächeln vermutlich der Sprachenvielfalt einer Einwanderungsnation zu verdanken ist, es also keinesfalls oberflächlich zu lesen ist?
„Vielleicht ist es eine weise Einrichtung der Natur, dass man sein eigenes Gesicht nicht sehen kann, jedenfalls nicht unvermittelt, so wie die andern uns sehen können.“ Mehr als 3,3 Sekunden sehen sich Menschen nicht ins Gesicht. Oft trifft Liebende eine Art Erinnerungsschock und sie sehen im anderen Gesicht jene nicht beschreibliche Zuneigung die Liebe auf den ersten Blick genannt wird.
Im Schwimmbad habe ich Stunden damit zugebracht im Wasser, unter flirrender Sonne und im Wellengang Gesichter zu erkennen. Ebenso in den ziehenden Wolken. Unsere Neigung, überall Gesichter zu erkennen, menschliche Züge zu lesen, scheint universell und wird auch in diesem Buch gespiegelt. Dass aus diesem Erkennen auch wiederkehrende Muster inkl. Stigmatisierungen entstehen können, es stimmt und wir neigen dazu, solchen Vor-Urteilen oder Kurzschlüssen immer wieder zu erliegen. „Wir forschen in den Zügen des Fremden unwillkürlich nach der Durchschrift des Herzens, dem Wesen einer Person.“
Schönheit des Gesichts, entstelltes Gesicht, Wiederherstellung von Gesichtern, abgewandtes Gesicht, Totenmaske, Verhüllungen, Mund-Nase-Schutz, Eindruck, Ausdruck, Passbild, Fake Face, Deepfake - das Buch von Andrea Köhler bietet eine Vielzahl von Zugangsmöglichkeiten zum wichtigsten äußeren Teil des Menschseins, kreativ und überraschend aufgefächert. Es hat mir viel Neues geboten, spannend zu lesen.
Bei mir selbst gibt es einen großen Widerwillen, mich fotografieren zu lassen. Jacob Burckhardt schrieb das ähnlich 1864 an einen Freund. Im Zeitalter der Selfies sei dies ungewöhnlich, lese ich, eine altmodische Scheu. Man hat Angst vor dem Aussehen, aber es ist mehr. „Es ist der Moment des Stillgestelltwerdens, das Erstarren im Bild, das Beklemmung auslöst.“ Indigene Völker hatten früher die Furcht, der Fotoapparat würde das Gesicht und gleichsam die Seele rauben. Im Moment der Ablichtung wird unser Gesicht also der eigenen Verfügungsgewalt entzogen.
Heute sind Werbegesichter das Ergebnis von Schönheitsoperationen, Kosmetik und Retuschen nach den Aufnahmen. Unvorstellbare Maßstäbe für den Einzelnen sind so entstanden und oft nur mit übermenschlichen Anstrengungen zu erreichen. Der Mensch aber und sein lebendiges Gesicht ist die Essenz unserer Humanität. Es im Internet oder mit Schleiern zu verhüllen, führt zum Verlust eines guten, zusammen klingenden, hilfreichen Miteinanders. „Ohne das Aufleuchten der Freude zwischen den Gesichtern, ohne das Wiedererkennen des Schmerzes in den Zügen des Gegenübers, wäre dies eine trostlose Welt.“