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© BÜCHERmagazin, Björn Hayer
Zu Hause in Smart-City: Philipp Schönthaler untersucht in seinen Erzählungen, welchen Platz die schöne neue Welt dem Menschen zuweist.
Was ist der Mensch? Eine diskursive Formation, sagte Michel Foucault und prognostizierte sein Verschwinden "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand", weil sich die zentrale Fragestellung (des Menschen) verlagere. Philipp Schönthaler, der mit kulturwissenschaftlich unterfütterten Erzählungen das Zeitalter der Automation vermisst, gibt Foucault zugleich recht und auch wieder nicht. Denn der Autor, der sich extensiv mit unserer Anbiederung ans Technovirtuelle befasst, interessiert sich durchaus für die Rückwirkungen der Medienmoderne auf den alten, ungeschützten Menschen.
Auch in den vorliegenden Erzählungen aus der smarten neuen Wimmelwelt begegnet er uns, Homo nudus, streift etwa als Teilnehmer einer Art Castingshow unbekleidet und zunehmend beklommen über eine zum Set hergerichtete Insel, verfasst umständliche Beschwerdeschreiben an den Betreiber all der Elektronik-Devices im Haushalt, weil ihn eine vermutete Fehlfunktion in Verzweiflung stürzt, oder erlebt die Anlieferung einer hysterisch vermissten Internetbestellung per Drohne als Epiphaniemoment. Einmal ist es sogar der Avatar selbst, der zum Menschen wird. Ein "Serious Games"-Lab hatte einen der letzten Holocaustüberlebenden interviewt, um aus seinen Mitteilungen und Regungen ein virtuelles Gegenüber für zukünftige Generationen voller Fragen über dieses Menschheitsverbrechen zu erschaffen. Aber zum Schrecken der Lab-Betreiber scheint der digitale Klon übermannt zu werden von der Monstrosität der Vorkommnisse: Er verweigert die Aussage.
Es geht immer wieder um solche Umbruchmomente, um das Eindringen des Zweifels in die nur der Idee nach geschlossene Mensch-Maschinen-Logik. Letztere weiß Schönthaler, ein in Fachjargons gebadeter Exaktheitsfanatiker, treffend zu parodieren. Da toben fremdbestimmte Blogger in einer defekten Sprache einen hemmungslosen Markenfetischismus aus ("HB hat die robusten und für die Kinder selbst bei Regen rutschfesten Natural Flagstone-Platten von Steinernewelten.de erst kürzlich verlegt"), da fliegen uns in einer Art Endkundenhypnose die Floskeln aus der BMW-Welt um die Ohren.
Einem Manager, der in edlem Hochhausbüro einer Delegation arabischer Scheichs eine Smart-City andreht, blicken wir während der Absonderung ganzer Verkaufsphrasenkaskaden sogar in den gut gecoachten Kopf. Auch da sehen wir Unordnung aufkommen, weil tief unten, auf dem Boden der Tatsachen, eine außer Kontrolle geratende Demonstration das Gerede von der autonomen Regelung von Verkehrs- und Fußgängerströmen Lügen straft: das Echte im Falschen, Risse im System.
Die Erzählungen Schönthalers besitzen meist eine Handlung, nur gehen sie in dieser nicht auf, sondern sind in erster Linie überhitzte Samplings aus den Begleitgeräuschen der Hypermoderne. Man erkennt allmählich, dass dieses Vokabelgewitter zur Selbststabilisierung labiler Systeme dient, und mehr noch: Diese Labilen, das sind wir. Das erinnert ein wenig an die kritischen Bestandsaufnahmen Kathrin Rögglas, die ebenfalls mittels präziser Sprachpersiflagen andeutet, dass hinter der populären Selbstoptimierung eine neue Unmündigkeit lauert.
Einige Texte gemahnen auch an das Sezieren von Managerseelen durch Rainald Goetz oder an die Reprogrammierung neokultureller Inszenierungen durch Harun Farocki. Und doch befindet sich Schönthaler nicht ganz auf Augenhöhe mit den Genannten, denn den Erzählungen haftet etwas Plakatives an. Da hilft auch keine kluge Bibliographie. Eine Satire über den Würdeverlust unter Dauerbeobachtung hat fast schon Siebzigerjahre-Retrocharme (à la "Das Millionenspiel"), und die Titelerzählung über den ersten einsehbaren Menschen bleibt bei aller Anschaulichkeit seltsam unverbindlich.
Schönthaler rekapituliert hier im Protokollstil die triste Lebensgeschichte des Mörders Joseph Paul Jernigan. Seine Hinrichtung am 5. August 1993 (vor Anbruch der Morgenröte) war zugleich der Startpunkt einer ungewöhnlichen Nachlebensgeschichte, denn Jernigans Körper wurde für das Visible Human Project in fast zweitausend dünne Scheiben zerschnitten, die man digitalisierte und per Software zu einem virtuellen Abbild seines Körpers wieder zusammensetzte. Über das Projekt gibt es allerdings zahlreiche Dokumentationen, Bücher und Artikel, denen Schönthaler wenig hinzufügt.
Dass man in einem Computerprogramm die Körperscheibchen per Knopfdruck zersprengen und neu zusammensetzen kann, kommt auch durch die Bezugnahme auf Jacques Derrida ("Ein Gespenst stirbt nicht") kaum über eine triviale Erkenntnis hinaus. Wichtiger wäre doch, dass man hier - anders als bei neueren bildgebenden Verfahren - noch ganz im Banne der Anatomie des neunzehnten Jahrhunderts stand. In jedem Falle zeigt uns der Autor eindringlich, welchen Platz uns die smarte neue Welt zuweist: einen in der Todeszelle, die Auferstehung als Zombies erwartend.
OLIVER JUNGEN
Philipp Schönthaler: "Vor Anbruch der Morgenröte." Erzählungen.
Matthes & Seitz Verlag,
Berlin 2017. 216 S., geb., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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