Als sein Vater wegen eines lange zurückliegenden Bankraubs ins Gefängniss muss, kommt der 14-jährige Halbwaise Jonas in ein Kinderheim, das von der unnahbaren Vora geleitet wird. "Die Wölfin" wird sie von den Kindern und Jugendlichen genannt. Wie gut, dass Jonas auf verwandte Seelen wie Pappel,
Lilly, Frei und die Geschwister Sinan und Beria trifft. Denn nur gemeinsam lässt es sich an diesem Ort…mehrAls sein Vater wegen eines lange zurückliegenden Bankraubs ins Gefängniss muss, kommt der 14-jährige Halbwaise Jonas in ein Kinderheim, das von der unnahbaren Vora geleitet wird. "Die Wölfin" wird sie von den Kindern und Jugendlichen genannt. Wie gut, dass Jonas auf verwandte Seelen wie Pappel, Lilly, Frei und die Geschwister Sinan und Beria trifft. Denn nur gemeinsam lässt es sich an diesem Ort aushalten, der irgendwo in einem Autobahnwald versteckt liegt. Umso härter trifft Jonas, der mittlerweile Jimmy genannt wird, der Verlust zweier Freunde, die von einem Tag auf den anderen verschwinden. Von Freundschaft und Liebe, Sehnsucht und Sucht, aber auch von Mord und Hass erzählt Salih Jamal in seinem neuen Roman "Vor der Nacht", der bei Leykam erschienen ist.
Nach dem wunderbaren "Das perfekte Grau" und dem Nachfolger "Blinder Spiegel" ist es der dritte Verlagstitel Jamals, in dem es diesem überraschend leicht gelingt, die Warmherzigkeit des Debüts mit der Härte des zweiten Romans zu einer teilweise jedoch etwas unausgegorenen Mischung aus Jugendroman, Coming-of-Age, Liebesdrama und Krimi zu verknüpfen. Auffallend sind dabei erneut die Sprache und das Spiel mit den Namen der Figuren.
"Viele Geschichten beginnen am Meer oder sie enden dort", lautet der tolle erste Satz, der die Leser:innen sofort in das Geschehen hineinzieht. Ebenso schnell kann Salih Jamal die Leserschaft von Beginn an für den Protagonisten und Ich-Erzähler Jonas alias Jimmy einnehmen. Auch wenn die Geschichte seiner Eltern romantisierend und ein wenig kitschig wirken mag, ist Jimmy ein vom Schicksal gezeichneter Junge, dem nicht nur die Empathie des Autors über die kommenden 350 Seiten gewiss sein wird. Gerade im ersten Drittel des Romans gibt es zudem zahlreiche dieser bemerkenswerten Sätze, für die Jamal schon seit "Das perfekte Grau" bekannt ist. "Man war nie allein und doch immer einsam", heißt es an einer Stelle über das Leben im Waisenhaus, "Erinnerungen sind wie Parfüm" an einer anderen.
Und auch Salih Jamals Faible für Spitznamen und seltsame Namen aller Art kommt in "Vor der Nacht" wieder voll zum Tragen. Da gibt es neben der etwas unverständlichen Umtaufe von Jonas zu Jimmy die recht plakativ benannte Heimleitung "Vora", bei deren klischeehafter Figurenzeichnung als "böse Wölfin" man sie sich förmlich als Kinder-verschlingendes Monstrum vorstellen kann. Besser gelingt dem Autoren das Spiel mit dem Namen der gelungensten Figur des gesamten Buchs: Jimmys Zimmergenossen "Frei Niemants". Dieser Frei steht in seiner Ambivalenz symbolisch für die Ängste und Nöte der Kinder, aber auch für deren dunklen Seiten, das "Wölfische", das gerade bei der Hauptfigur gegen Ende des Romans eine ganz besondere Rolle spielen wird. "Niemand ist frei", so mag das Gefühl dieser geplagten Charaktere sein.
Während das erste Drittel des Buches trotz oder gerade wegen seines Jugendbuchcharakters zu gefallen weiß, nimmt die Episode im Heim ein viel zu abruptes Ende und leitet die erzählerisch deutlich schwächere Erwachsenenphase der Figuren ein. Prostitution, Drogenmissbrauch, Mord, eine SM-Beziehung, Raub - hier wird nichts ausgelassen. Und so überrascht es nicht, dass "Vor der Nacht" am Ende mit vielen Toten daherkommt. Natürlich will Salih Jamal auf die Versehrtheit der damaligen Heimkinder hinweisen, doch leider geschieht dies so plakativ und klischeehaft, dass man es nach einer Weile kaum noch ernst nehmen oder aushalten kann. Zudem verfängt sich der Autor sprachlich in Kalendersprüchen und verpasst es, einen neuen Handlungsspielort wie die Malediven auch nur ansatzweise interessant zu gestalten. Am schlimmsten ist aber der verharmlosende Umgang mit Drogen. Während Sinan auf den Malediven eine Art kalten Entzug von seiner Crack-Abhängigkeit machen soll, wird bereits in den Morgenstunden fröhlich gebechert und abends liegt man sich in den Armen, obwohl eine der Figuren gerade einen Mord gestanden hat.
Da tut es gut, dass das große Finale - wir wissen aus dem ersten Satz, dass es am Meer spielt - versöhnlich und konsequent ist. Der Epilog ist gar so anrührend, dass er mir eine Gänsehaut bescherte.
Insgesamt ist "Vor der Nacht" ein nur halbwegs überzeugender Roman, der sich trotz der Anspielungen und versteckten kleinen Zitate aus den beiden Vorgängern eher die schwächeren Elemente der bisherigen Werke herausgepickt hat. Dennoch hat er mit Jimmy und Frei zwei Figuren, die einen auch im Nachgang nicht loslassen und zahlreiche unvergessliche Sätze, die die Lektüre durchaus lohnen. Für das nächste Werk Salih Jamals würde ich mir vielleicht kein "perfektes Grau", aber Charaktere wünschen, die mehr Grautöne aufweisen als Vora oder die anderen Kinderfiguren.