„Am Ende bleibt nicht viel, sogar erstaunlich wenig, und auch das Wenige darf irgendwann vergessen werden. Und das ist gut.“ S.10
Die namenlose Ich-Erzählerin verbringt ihre Kindheit mit ihrer ungarisch-stämmigen Familie im „Fischbauch“, einem beengten Haus in der Schweiz mit drei Etagen, wo sie
sich eine Kammer mit dem Großvater und der älteren Schwester teilt und in dessen Keller die Geister…mehr„Am Ende bleibt nicht viel, sogar erstaunlich wenig, und auch das Wenige darf irgendwann vergessen werden. Und das ist gut.“ S.10
Die namenlose Ich-Erzählerin verbringt ihre Kindheit mit ihrer ungarisch-stämmigen Familie im „Fischbauch“, einem beengten Haus in der Schweiz mit drei Etagen, wo sie sich eine Kammer mit dem Großvater und der älteren Schwester teilt und in dessen Keller die Geister der Vergangenheit rumoren. Der Großvater träumt von seiner Heimat Ungarn, die er in den 50er Jahren während des Ungarnaufstands verließ, und hadert anders als die Eltern mit der Kultur der Schweizer. Die Eltern, zumindest die Mutter, wollen lieber werden, was sie nicht sind: „echte“ Schweizer.
„Das Deutsch prallt hart auf unsere Wände, klingt immer nach Befehl, nie nach Bitte und tatsächlich spuren wir auf Deutsch viel schneller.“
Es ist eine Kindheit der Verluste. Der Großvater stirbt und wenig später verlässt der Vater die Familie. Die Mutter versucht stoisch das „übrig gebliebene“ zusammenzuhalten, während auch die große Schwester ihren eigenen Weg antritt und eines Tages ganz verschwunden ist. Mit diesem letzten Verlust beginnt die Geschichte und führt uns zu der Frage nach dem Platz im Leben und wie wir ihn finden, wenn uns alle Sicherheiten und Orientierungspunkte abhandenkommen.
„Mein Vater ist der Nordpol, Mutter der Südpol. Kalt ist mir oben und unten.“
Das Besondere an diesem Debüt der Schweizer Autorin mit ungarischen Wurzeln ist der Sound. Ich finde es oft schwierig, kindlichen Ich-Erzähler*innen zuhören zu müssen: entweder ist mir die Sprache zu naiv oder zu altklug und zu wenig authentisch. Doch Katinka Ruffieux hat einen Spagat geschafft, der mir sehr gut gefallen hat. Die Erzählerin ist mit kindlich naiver Offenheit, intuitiver Weisheit und feiner Beobachtungsgabe ausgestattet, was sympathisch und humorvoll daherkommt. Die Autorin versteht es, mit Worten zu spielen und ihre Doppeldeutigkeit zu zelebrieren. Dreht sie von links nach rechts und schafft damit eine leichte, verspielte, oft freche Poesie. Besonders die Dialoge der Erzählerin mit ihrer grundverschiedenen rebellischen Schwester, die ihren angepassten Tendenzen die Stirn bietet, sind amüsant und gleichzeitig anrührend.
„Meine Schwester hat sich einmal mehr vorgedrängt, mir mit ihrem Mut den Mut genommen.“
Die Puzzlesteinchen der Geschichte fügen sich fragmentarisch zusammen und die Facetten der Protagonisten gewinnen nur langsam Schärfe. Aber warum sollte für mich leichter sein als für die Erzählerin, die selbst sagt, dass sie einen toten Russen [in dem Fall Rachmaninow] besser verstünde als ihre Familie?
Eine zarte tiefgründige Erzählung vom Schweren, von Verlust und der schmerzhaften Suche nach Identität, vom Dazwischen – zwischen Herkunft und Zugehörigkeit, zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen den Polen der Familie, zwischen Nähe und Distanz.