So schmerzhaft schön wie das Leben selbst
Dieses Buch ist anders. Es ist echt, ungeschönt und schmerzhaft. So schmerzhaft, wie all die Mutter-Kind-Traumata, die über Generationen hinweg durchlebt wurden, nicht nur von der Erzählerin selbst, sondern von jeder von uns Leserinnen. Und da nehme ich
niemanden aus. Erst der Krieg, der Hunger, das Leid, dann die Teilung Deutschlands in Osten und…mehrSo schmerzhaft schön wie das Leben selbst
Dieses Buch ist anders. Es ist echt, ungeschönt und schmerzhaft. So schmerzhaft, wie all die Mutter-Kind-Traumata, die über Generationen hinweg durchlebt wurden, nicht nur von der Erzählerin selbst, sondern von jeder von uns Leserinnen. Und da nehme ich niemanden aus. Erst der Krieg, der Hunger, das Leid, dann die Teilung Deutschlands in Osten und Westen, die unterschiedlichen Lebensmodelle und -entscheidungen, die dazu führen, dass traumatisierte Eltern fortwährend traumatisierte Kinder in die Welt setzen.
Die Erzählerin fasst über die Geschichte hinweg ihren Freitod ins Auge, sie, die Schriftstellerin, untermalt ihre Vergangenheitsaufarbeitung mit Eindrücken ihres aktuellen Lebens und rundet dies stets mit der Erwähnung einer Autorin ab, die sich selbst das Leben genommen hat.
Dabei wirft sie immer wieder Fragen auf, die den Leser berühren. Was bedeutet Zuhause? Wer bin ich ohne meine Vergangenheit? Lässt sich jedes Trauma, vor allem ein generationenübergreifendes, lösen? Ist Selbstmord je eine Lösung? Ist es eine Lösung, selbst keine Kinder zu bekommen?
Interessant ist im Verlaufe des Buches auch, wie die heutzutage häufige Fehlender-Vater-Thematik angesprochen wird. Zitate:
„Gegenüber einem abwesenden Vater reagiert vor allem der Schmerz.“
„Warum sind unsere Ansprüche an Väter so gering und an Mütter so hoch? … während man von einer Mutter alles verlangt, sie fast ausschließlich an ihren Fehlentscheidungen und Fehltritten misst.“
„Wenn ich an meinen unbekannten, abwesenden Vater denke, dann denke ich an ihn in gewisser Weise wie an einen verlorenen Liebhaber. … Statt ihn zu suchen und Antworten einzufordern, ihn zu einer Haltung zu drängen, befrage und seziere ich mich permanent selbst. Was habe ich falsch gemacht? Was stimmt nicht an mir? … Warum war ich nicht genug?“
Letztlich geht es aber egal bei welchem generationsübergreifendem Traum immer wieder darum, dass Heilung für jede von uns und überhaupt in jeder Situation etwas anderes bedeutet, dass jeder Weg dorthin individuell ist.
Ich bin sehr zufrieden mit dem Buch. – Es ist sehr dünn und ich dachte zuerst, wie schade, da ich dicke Bücher liebe. Aber dieses hier möchte ich gar nicht dicker haben, denn es ist inhaltlich sehr kompakt und vor allem emotional berührend. Es liest sich sehr gut mit einen Textmarker in der Hand, mit dem man sich immer wieder treffende Passagen markiert. Es rüttelt auf und regt an, die eigene Geschichte ein weiteres Mal zu hinterfragen. Es regt dazu an, die Biografien der Autorinnen zu lesen, die im Roman als Selbstmörderinnen erwähnt werden. Nicht um sich selbst herunterzuziehen, sondern um zu begreifen, wie fragil unser emotionales Kostüm sein kann und wie wichtig es gerade deshalb ist, dass wir auf unserer Lebensreise irgendwann selbst zu den Eltern und Großeltern für uns werden, die wir nicht hatten. Dass wir uns selbst so sehr bemuttern, bevatern und begroßeltern, wie uns das guttut. Denn damit endet letztendlich auch das Trauma. Und dann stellt sich die Frage: Wer sind wir ohne unser Trauma? Wer sind wir, wenn wir keinen Urschmerz mehr in uns tragen? Zu wem wollen wir werden?
Die Autorin sagt in Anspielung auf den Buchtitel abschließend: „Das Wetter ist überall unzuverlässig. Ich bin es nicht.“ Und das zeigt wunderbar und hoffnungsvoll, dass sie inzwischen selbst zu der Person geworden ist, die sie am meisten braucht: Zu der, die mit dem Alten Schluss macht, ohne dafür mit ihrem Leben Schluss zu machen.
Ein kleines, feines Buch, für das der Leser sich gern so viel Zeit nehmen darf, wie es braucht.