Nominiert für den Deutschen Buchpreis
„Schließlich hatte ich mich danach immer gesehnt: einer Vergangenheit, in der Leute wie ich vorkamen, und zwar HIER und nicht DORT.“
Mithu Sanyals Debutroman „Identitti“ gefiel mir so gut, dass ich nach der Lektüre (obwohl ich als Leserin mit den meisten
Thesen überhaupt nicht konform gehe) auch das Audiobook angehört habe, und das als absoluter…mehrNominiert für den Deutschen Buchpreis
„Schließlich hatte ich mich danach immer gesehnt: einer Vergangenheit, in der Leute wie ich vorkamen, und zwar HIER und nicht DORT.“
Mithu Sanyals Debutroman „Identitti“ gefiel mir so gut, dass ich nach der Lektüre (obwohl ich als Leserin mit den meisten Thesen überhaupt nicht konform gehe) auch das Audiobook angehört habe, und das als absoluter Hörbuchmuffel! Die Schwächen bestimmter Konzepte wurden entlarvt und oft dachte ich beim Lesen „dito!“, etwa beim unsäglichen Begriff „Dönermorde“, der in der story zu Recht kritisiert wurde. Die Autorin war mir sympathisch, da sie für einen Dialog plädierte. Gute Literatur fordert heraus.
Daher habe ich „Antichristie“ noch vor dem Erscheinungstermin auf meine Wunschliste gesetzt.
Worum geht’s?
Der Roman behandelt diverse Themen. Im Zentrum steht die 50jährige Ich-Erzählerin Durga Chatterjee (eine Drehbuchautorin). Zu Beginn der Geschichte geht es um Trauerbewältigung, da die deutsche Mutter Durgas (ihr indischer/bengalischer Vater taucht mit seiner neuen Frau auf) verstorben ist. Zu den Eltern hat die Romanheldin ein eher schwieriges Verhältnis, da der Vater trotz Anwesenheit nicht greifbar war, arbeitete sie sich an der (nicht grundlos) zu Verschwörungstheorien neigenden Mutter ab. Die Figur einer Hippiemutter, die den Nachwuchs verlässt, um sich selbst zu verwirklichen, ist ein wandelndes Klischee, welches man auch bei Houllebecq findet. Die Erzählerin bemüht sich, alle Positionen eines Diskurses abzubilden, wobei sie natürlich zu manchen Theorien eher tendiert. (Es wird im Roman aber nicht durchweg eine dogmatische, „woke“ Haltung eingenommen, das Konzept der cultural appropriation etwa wird im Spiegel des zeitlichen Wandels reflektiert, Colourism wird kritisiert, überhaupt gibt es Raum für Ambivalenzen, für ambiguity, wie es so schön heißt. Andererseits muss man sagen, dass eben nicht alles relativ ist).
Durga ist mit einem Schotten verheiratet und Mutter eines Sohnes im Teenageralter. Da sie bereits Folgen für die britische Kultserie „Dr WHO“ verfasst hat, wird sie engagiert, um gemeinsam mit anderen (ethnisch diversen) Autoren eine zeitgemäße, zeitgeistige Version der ITV – Serie „Poirot“ zu erschaffen, ganz im Stil von „Bridgerton“ (ich halte die Adaption eines Unterhaltungsromans für schlimmen Kitsch). Agatha Christies Hercule Poirot als PoC? Belgien hatte schließlich Kolonien.
Das Fernsehspiel mit David Suchet liebe ich, daher habe ich mich über das Auftauchen im Roman sehr gefreut. Als das Drehbuchautorenkollektiv in einem Artikel polemisch „Let’s kill the Queen [Agatha Christie]“ fordert (im übertragenen Sinne, als Dekonstruktion) und Königin Elizabeth II. im Jahr 2002 tatsächlich stirbt, ist die Aufregung groß – die Demonstranten, die sich „ihre“ Geschichte(n) nicht nehmen lassen wollen, werden als treudoof-trottelige Gestalten porträtiert, die als „Christs for Christie“ oder als „Mums for Miss Marple“ („Twilight Moms“, anyone?) Namen wie „Melone“ oder „Sarah Ferguson“(!) tragen, und sogar teils als Dozenten arbeiten, aber eben nur an der „Open University“ und nicht etwa in Oxford. Von der Erzählstimme werden ihnen ein paar valide Argumente jedoch zugestanden.
Man könnte sagen, dass die Kolonialismuskritik das Hauptthema des Romans ist, es geht aber auch um (gesellschaftliche) Diskurse & Narrative, um Erinnerungskultur, Geschichtsbilder, Politik, Poststrukturalismus, um den sog. antimuslimischen Rassismus, um nation building und Nationalismus, (um „Die Erfindung der Nation“, wenn man so will) um Identitätspolitik & Genderkonzepte, um die Frauenbewegung, um Frauenfreundschaft und um Sozialismus (ein Eric-Hobsbawm-Zitat ist insofern ein Muss).