Nino Haratischwili:
Das Achte Leben (für Brilka)
Eine Familiensaga -wie beginnt man, sie zu erzählen? Die Erzählerin versteht ihr Handwerk. Sie verknüpft parallele
Handlungsstränge miteinander und macht dem Ansprechpartner, dem Leser, Appetit ob der angerissenen…mehrNino Haratischwili:
Das Achte Leben (für Brilka)
Eine Familiensaga -wie beginnt man, sie zu erzählen? Die Erzählerin versteht ihr Handwerk. Sie verknüpft parallele Handlungsstränge miteinander und macht dem Ansprechpartner, dem Leser, Appetit ob der angerissenen Lebenslinien. Sie vergisst kein Schicksal, sie fügt die Splitter in Rückblenden und Jetzt-Zeit zusammen, sie lässt Leben entstehen und lässt es nehmen.
Der Stammbaum der Familie Jaschi zeigt 100 Jahre auf fast 1300 Seiten. Und ganz nebenbei Geschichtsunterricht: Russland, Georgien. Revolution. Bolschewiken. Kommunisten. Faschisten. Krieg. Fall des Eisernen Vorhangs. Perestroika, Glasnost und alles wieder von vorn: Rebellen, Revolution.
M a c h t. Große Kleine Männer hier und Kleine Große Männer dort. Dabei miteinander verwoben der Fall der Werte. Der Leser lernt das Einschleichen der totalitären Mächte im Großen zu begreifen und im Kleinen nachzuempfinden im Teppichmuster der Familie. Schoko-Sinne werden gekitzelt, Geheimnisse bewahrt und verraten. V e r r a t. So lange her und doch so nah. Und immer wieder neu.
Mensch sein und Träume leben ohne Kalkül. Realtät ausblenden, nicht wahrhaben wollen, das kleine Glück nicht gefährden. LIEBE. Schwein sein und Macht haben, HASS. ANGST. Immer wieder und überall Orwell.
Es ist unglaublich, wie die Schriftstellerin Nino Haratischwili, Jahrgang 1983, lebensklug und historisch fundiert eine Familiengeschichte erzählt, die fesselt und den Leser zum Mitwisser macht. Man leidet mit, man möchte warnen und ist erleichtert, wenn Gefährliches gut ausgeht. Man fühlt Freundschaft und Abscheu und möchte vor Schlimmem bewahren und kann doch nur resignieren. Geschichtsunterricht wird lebendig und die Nachrichten aus den 60-iger und folgenden Jahren erinnern an selbstgehörte Vergangenheit, weniger an selbst-er-lebte westliche Erfahrung.
Die letzten 50 Seiten lassen beim Leser den Abschiedsschmerz nicht ganz so groß werden, denn eigentlich ist alles gesagt und Nizas und Brilkas Zusammenführung scheint eher dem Kunstgriff geschuldet zu sein, der Ich- Erzählerin und ihrer Adressatin eine Perspektive schenken zu wollen. In einem guten Film würde sich der Regisseur vom Drehbuch lösen und in der Totalen auf die Phantasie des Zuschauers setzen, der mit seinen eigenen Gedanken die Geschichte zu Ende denken würde. Aber ein solches überhebliches Ansinnen steht mir als Leserin dieses Meisterwerks (ja,das ist es!) nicht zu.
Insgesamt ein fesselnder Familienentwicklungsroman, der neugierig macht auf ein mir unbekanntes Georgien.