Krimitipp Juni 25: Trude Teige, „Der Junge, der Rache schwor“ Ins Herz der Finsternis führt uns Trude Teige gleich auf der ersten Seite von „Der Junge, der Rache schwor“. Es ist Band 1 der Reihe um Journalistin Kajsa Coren, und wir blicken kurz ins Jahr 1966 zurück: Ein Junge, verzweifelt, geschlagen, misshandelt, sitzt in einem Verschlag unter einer Treppe. Das Schlimmste für ihn: zu wissen, dass er ganz allein ist in diesem Dunkel. Er ist fünf Jahre alt. Doch eines gibt ihm Halt: Irgendwann wird er groß sein und stark. Und dann wird er sich rächen. „Wenn er daran dachte, fürchtete er sich weniger.“ Jetzt aber weint er lautlos, denn niemand darf ihn hören …
Im Jahr 2002 beobachtet ein schwarz gekleideter Mann ein Haus. Er weiß alles über das Ehepaar, das hier lebt, und seine zwei Hunde. Zuerst sind die Hunde dran. Die haben es schnell hinter sich. Das Ehepaar nicht. Mit ihnen lässt sich der Mann Zeit. Sie sollen fühlen, was er früher durchmachen musste. Irgendwann aber sind auch sie tot. Bestialisch ermordet.
Kajsa Coren, unsere Hauptfigur, ist Journalistin in Oslo. Eine, die bekannt ist und sich engagiert, oft über Missstände berichtet. Daher rufen immer wieder Menschen bei ihr an, um sie auf Themen hinzuweisen. Dieser neue Anrufer spricht über die Heim- und Waisenkinder, denen viel Leid widerfahren ist, sehr viel Leid. Und er fragt, warum eigentlich nie jemand von Strafe spricht, Strafe für die Täter. Immer nur heiße es „Entschädigung“, aber auch das Geld fließe nicht wirklich. Kajsas Interesse ist geweckt.
Die Journalistin ist mit Aksel Coren verheiratet, einem bekannten Psychiater und Profiler. Er arbeitet oft an Kriminalfällen mit, und immer wieder gibt es dabei Überschneidungen mit Kajsas Recherchen. Eigentlich gilt die Absprache: Wenn Aksel einen Fall übernimmt, ist Kajsa raus. Daher ist Kajsa auch ins politische Ressort gewechselt, weg von den Kriminalfällen. Das Familienglück ist deshalb aber noch lange nicht gesichert. Kajsa hat immer mehr das Gefühl, Aksel distanziere sich von ihr. Und die beiden Kinder, Thea und ihr älterer Bruder Anders, sind eben Kinder mit Wutanfällen oder wollen nicht in die Schule. Dann ist da auch noch Kajsas Mutter, die immer vergesslicher zu werden scheint.
Kajsa, Aksel und die Kinder leben in einem Haus mit Blick über den Oslofjord. Und der Doppelmord geschieht nicht sehr weit davon entfernt in Asker. Daher wird Kajsa von der Redaktion angerufen, sie solle mal vorbeischauen. Das tut sie – und sieht als Erstes einen Polizisten, der sich übergibt. So etwas Scheußliches habe er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen, sagt er und ergänzt etwas in der Art, der Täter müsse ja „krank im Kopf“ sein. Auch Hauptkommissar Karsten Kjølås ist am Tatort. Als Kajsa noch Kriminalreporterin war, hatte sie öfter mit Karsten zu tun, und vermutlich war da auch noch mehr zwischen den beiden …
Ein Doppelmord also. Immer wieder lesen wir auch über die Innenwelt und die Vergangenheit des Täters. Irgendwann einmal war er ein ganz normales Kind gewesen. Und dann war da der Tag, an dem der Hass zu ihm kam … Ein neuer Gesprächspartner, Jakob Sperre, bringt Kajsas Recherche zu den misshandelten und missbrauchen Heimkindern voran. Und er erzählt ihr von einem Knabenheim und seinem sadistischen Leiter. Der ernannte einen Jungen zu seinem persönlichen Sklaven … in jeder Hinsicht. Mehr will oder kann Sperre nicht sagen. Nur noch den Satz: „Was niemand weiß. Was noch schlimmer ist.“ „Was meinte er damit?“, fragt sich Kajsa. Immerhin bekommt sie einen Namen. Ein Anfang, ein Teil in einem grauenhaften Puzzle. Aber Kajsa ist dran – und wird etwas Schrecklichem auf die Spur kommen …
Leider ist auch der Mörder auf Kajsas Spur. Er findet sie faszinierend und will, dass nur sie über den Fall berichtet. Und darüber, was dahintersteckt. So fängt er an, Kajsa Nachrichten zu schicken. Und sie zu beobachten. Denn Kajsa liebt es, auch bei klirrender Kälte nachts auf der Terrasse zu sitzen. Dort sinniert sie, trinkt zu viel Wein aus einer Kaffeetasse. Sie kann von dort von Oslo bis Kjølås blicken, und niemand konnte sie sehen. Bisher. Nun beobachtet sie der Mörder. Denn er sieht in Kajsa jemanden, der ihn retten kann. Ihr kann er von allem Bösen erzählen, so träumt er. Wann wird der Wunsch, diese Nähe in Wirklichkeit zu erleben, so groß werden, dass er ihm nachgibt?
„Der Junge, der Rache schwor“ ist eine fantastisch erzählte Geschichte mit vielen Facetten eines Themas, das an die Nieren geht, aber von Trude Teige nie überstrapaziert wird. Sensibel und glaubwürdig beschreibt sie die Innenwelt des Täters und anderer Missbrauchsopfer. In Kajsa Corens Leben tauchen wir genauso schnell ein wie in die Kriminalgeschichte. Ein Lesevergnügen für Krimiliebhaber und alle, die gute Geschichten mögen. Und wer tut das nicht?
Trude Teige ist eine der wichtigsten Autorinnen Norwegens und weit darüber hinaus bekannt. Die Journalistin und Schriftstellerin hat mit der Reihe um Kajsa Coren einen Volltreffer gelandet, der mittlerweile einige Fälle umfasst, etwa „Totensommer“, „Das Haus, in dem das Böse wohnt“, „Die Frau, die verschwand“ oder „Das Mädchen, das schwieg“ (Übersetzungen von Gabriele Haefs und/oder Andreas Brunstermann).
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