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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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Gaito Gasdanows erschütternder Roman "Das Phantom des Alexander Wolf"
Von Monika Grütters
Es ist ein fast ungeheuerlicher erster Satz. Er gibt das Grundmuster dieses Buches wieder, den Kontrast zwischen melodischem Wohlklang und bestürzender Ehrlichkeit, der den Atem stocken lässt: "Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe."
Packend wie ein Thriller beginnt dieses erst 2012 auf Deutsch erschienene literarische Meisterwerk des 1923 nach Paris geflohenen und 1971 in München verstorbenen russischen Exilschriftstellers Gaito Gasdanow. "Das Phantom des Alexander Wolf" erzählt die Geschichte zweier Männer, deren Wege sich im Russischen Bürgerkrieg kreuzen und die durch den "augenblickskurzen, rotierenden Flug" einer Pistolenkugel für den Rest ihres Lebens auf schicksalhafte Weise aneinandergekettet bleiben sollen.
Gerade einmal sechzehn Jahre alt ist der namenlose Ich-Erzähler, als er, zermürbt von Hunger, Durst und Müdigkeit, in Notwehr einen Soldaten erschießt, der ihm auf einem "weißen Hengst von apokalyptischer Schönheit" entgegenreitet und mit dem Gewehr auf ihn zielt. Er wähnt den Fremden tot, bis er viele Jahre später, in denen ihm die quälende Erinnerung an den vermeintlichen Mord sein junges Leben verdüstert hat, in einem Buch auf die Erzählung eines gewissen Alexander Wolf stößt. Die Einzelheiten des Schusswechsels im Wald sind darin bis ins Detail genau beschrieben. Seine Versuche, Alexander Wolf zu finden, bleiben vergeblich.
Wenn auch nicht unmittelbar, so doch umso eindringlicher bleibt er allgegenwärtig - er, der andere, der Fremde, der Feind. Oder doch das Alter Ego? Doch dann ist es ein zweites Mal das Schicksal, das ihn auf Alexander Wolf treffen lässt - diesmal in der Vergangenheit einer Frau, in die er sich verliebt. In Jelenas Erzählungen ihres früheren Geliebten, in dessen Gegenwart "alles dahinwelkte", nimmt das Phantom des Alexander Wolf erneut Gestalt an: Sie zeichnen das Bild eines Abenteurers und Verführers, der ohne jede "Illusion von Dauer" lebt und angesichts der allgegenwärtigen Bedrohung durch einen jähen Tod nichts findet, wofür es sich noch zu leben lohnte: "Woran andere glaubten, existierte nicht für ihn; auch die besten, die schönsten Dinge verloren ihren Reiz, sobald er sie berührte."
Der Ich-Erzähler, dessen Sprache in Rosemarie Tietzes kongenialer Übersetzung zwischen nüchterner Klarheit und poetischer Melancholie wechselt, findet ein von allen Seelenqualen ungetrübtes Empfinden dann doch in der Liebe. In einer Nacht, die er mit Jelena verbringt, überwältigt ihn beim Anblick der schlafenden Frau eine "unvergessliche Empfindung seliger Fülle", eine fassungslose Dankbarkeit, dass er imstande ist, etwas zu fühlen, was den "fernen Widerschein einer auch nur kurzzeitigen Vollkommenheit in sich trug".
Am Ende aber wird es keinen Trost geben in der Erkenntnis, im Schatten einer tatsächlich gar nicht existierenden Schuld gelebt zu haben. Bedrückend bleibt das Wissen, fähig zum Mord zu sein, und quälend der Verlust der Illusionen, der "normalen menschlichen Vorstellungen vom Wert des Lebens und von der Notwendigkeit der grundlegenden Moralgesetze".
Mit einem seltenen Gespür für die menschliche Seele führt Gasdanow dem Leser die Macht und Formbarkeit von Erinnerungen vor Augen. Krieg, Tod, Liebe und Zufälle verbinden Lebenswege miteinander, denen eine Erkenntnis gemeinsam ist: "Wenn wir nichts vom Tod wüssten, wüssten wir auch nichts vom Glück, denn wüssten wir nichts vom Tod, hätten wir keine Vorstellung vom Wert unserer besten Gefühle, wir wüssten nicht, dass einige niemals wiederkehren und dass wir sie nur jetzt in ihrer ganzen Fülle begreifen können. Davor war uns das nicht beschieden, danach würde es zu spät sein." Ein Buch von wahrer Größe und Schönheit.
Monika Grütters, CDU, ist Staatsministerin für Kultur und Medien.
Gaito Gasdanow: "Das Phantom des Alexander Wolf". Roman. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. dtv, 192 Seiten, 9,90 Euro
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