Von diesem kleinen, feinen Buch bin ich derart hingerissen, dass ich es gleich zweimal hintereinander lesen musste, und selbst danach waren meine Gedanken so davon beseelt, dass ich mich nicht sofort auf eine neue Lektüre einlassen konnte. Das zeigt, wie begeistert bin.
„Die Geschichte des
Klangs“ umfasst auf guten 100 Seiten zwei Erzählungen, die zwar zusammenhängen, die aber auch einzeln…mehrVon diesem kleinen, feinen Buch bin ich derart hingerissen, dass ich es gleich zweimal hintereinander lesen musste, und selbst danach waren meine Gedanken so davon beseelt, dass ich mich nicht sofort auf eine neue Lektüre einlassen konnte. Das zeigt, wie begeistert bin.
„Die Geschichte des Klangs“ umfasst auf guten 100 Seiten zwei Erzählungen, die zwar zusammenhängen, die aber auch einzeln funktionieren. Beide sind sehr dicht erzählt und auf einer Meta-Ebene philosophisch, und in beiden Geschichten geht es um eine große Liebe. 1916 lernen sich zwei junge Männer kennen, Musikstudenten beide. Nach dem Krieg verbringen sie einen Sommer miteinander, danach sehen sie sich nicht wieder, der Kontakt reißt ab. Lionel, der Erzähler, hielt diese Begegnung lange Zeit für seine erste Liebe, den Auftakt zu einem glücklichen Leben. In späteren Jahren fragt er sich, was hätte sein können, wenn er am Ende des Sommers nicht nach Hause gefahren wäre. Jahrzehnte später erreicht ihn eine Nachricht aus der Vergangenheit.
In der zweiten Erzählung endet Annies vielversprechendes, zielorientiertes Leben zu einem Zeitpunkt, den sie jedoch in jenem Moment voller Hoffnung und Glück für den Beginn ihres richtigen Lebens hält. Beide Erzählungen werfen die Frage auf, wann man erkennt, dass man glücklich ist. Oder war. Und wann man weiß, wer die Liebe seines Lebens ist - oder war. Beide Protagonisten lassen der Liebe wegen alles stehen und liegen, ohne auch nur einen Moment zu überlegen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie in diesem Augenblick anders gehandelt hätten?
Shattuck erzählt davon, wie eine einzige Entscheidung das weitere Leben unvorhersehbar beeinflussen kann. Beide Erzählungen bieten viel Stoff zum Nachdenken. Wir treffen Entscheidungen und halten sie in dem Moment für gut durchdacht. Ob sie richtig waren, zeigt sich erst im Nachhinein, oft erst sehr viel später. Wir glauben im Augenblick der Entscheidung zu wissen, was richtig, was gut für uns ist. Das ist das Prinzip Hoffnung. Wir können es nicht wissen.
Shattuck hätte aus seinem Stoff einen epischen Roman machen können. Aber mit den Leerstellen, die ins Mark treffen, die so beredt sind, wie es kein Text sein könnte, erzielt er ein Maximum an Empathie, das beim Lesen beinahe körperliche Schmerzen verursacht. Viel Stoff zum Nachdenken. Für mich ein ganz grandioses Buch, das meine Vorliebe für kurze Lesestücke einmal mehr bestätigt.
Der Autor lebt in Massachusetts und wurde bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Aus dem Englischen von Dirk von Gunsteren.
Die beiden Erzählungen sind dem Buch „The history of sound“ entnommen, 2024 bei Viking Books erschienen, einem Imprint von Penguin Random House. Der Band enthält 12 Erzählungen. Schade, dass der Hanser Verlag uns die anderen 10 vorenthält.