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Martin Walsers neuer Roman "Die Inszenierung"
So langsam ist er alle Fesseln los. Die Phase des Spätwerks von Martin Walser, 86, hat ja schon vor vielen Jahren begonnen, und da er im Alter in rasender Geschwindigkeit schreibt und Bücher erscheinen lässt, ist der Umfang dieser Werkphase inzwischen so voluminös und vielbändig, dass wir Leser längst den Überblick verloren haben. In seinem siebt- oder sechstletzten Roman "Angstblüte" hatte er eine Erklärung für dieses Phänomen in der Pflanzenkunde gefunden: Blumen, die ihr nahes Ende ahnen, lassen panisch Blüte um Blüte erstehen, um ein letztes Mal zu leuchten, um lange in Erinnerung zu bleiben und vor allem: um sich noch einmal fortzupflanzen.
Die Helden in Martin Walsers Büchern pflanzen sich seit vielen Jahren panisch fort. Sie zücken gern und eifrig ihren Penis wie eine kleine Waffe gegen die Sterblichkeit, sie verlieben sich in jede junge Dame, die auf den Bücherseiten auftaucht, sie verdammen ihre Ehefrauen für ihre moralische Kleinlichkeit, die den Helden jede neue Liebesfreude mit ihren monogamen Einwänden verdirbt. Sie sind glücklich, Künstler zu sein und also einen Beruf zu haben, in dem es einzig um Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit geht und darum, jedem Liebestrieb augenblicklich Folge zu leisten. Walsers neuester Held heißt Augustus Baum, er ist ein berühmter Theaterregisseur, hat einen leichten Schlaganfall erlitten und liegt im Krankenhaus. Er könnte eigentlich längst schon als geheilt entlassen werden, doch er hat sich in die Nachtschwester Ute-Marie verliebt und simuliert nun mühsam schwere Leiden, um bei der Geliebten bleiben zu können. Seine Frau heißt Dr. Gerda, bringt ihm seit 29 Jahren das Frühstück ans Bett und wird von seinen permanenten Liebesgeständnissen gelangweilt. Sie kennt ihren heißen Augustus und sie weiß: "Der GV ist zweifellos der Motor, der unsere Welt in Gang hält." Vor allem die Augustus-Welt. Die Frauen, sagt Dr. Gerda, seien für ihn wie Steckdosen. "Und du hast für den Strom, den sie dir lieferten, nicht bezahlt." Darauf entgegnet Augustus routiniert, das habe auch Goethe schon so gemacht. Und Brecht. Und andere.
Augustus Baum schimpft auf die Moral-Industrie, die die Ehefrauen dieses Planeten erschaffen haben, um ihm die Liebe zu verderben. Herrschsucht. Macht. Verlogenheit. Der Dreiklang jeder Ehe. Der Mann, sein Penis, ewiges Opfer eines verbotenen Magnetismus: "Auch ich fühle mich ausgeliefert dem, was ihr zwischen den Beinen habt. Diese senkrecht stehende Partie Lippen zu nennen, war ein wunderbarer Einfall, um diese Partie zu zivilisieren."
Walsers Projekt, sein Traum und der Traum der Altershelden seiner Bücher, ist die Entzivilisierung dieser Partie. Entgrenzung, Freiheit, Regellosigkeit. Und dazu von der Ehefrau Frühstück ans Bett. "Die Inszenierung" ist das Buch eines pubertierenden Greises, und Walsers Spätwerk ist direkt in ein Superfrühwerk übergegangen. So kann es ewig weitergehen.
VOLKER WEIDERMANN
Martin Walser: "Die Inszenierung". Rowohlt, 175 Seiten, 18,95 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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