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Sechs erstaunliche Bücher machen diesen Herbst zu einem Lesefest. Und das sind nicht einmal die erwartbar gewichtigen Romane großer Autoren, die ebenfalls zu dieser tollen Saison beitragen.
Dieser Bücherherbst dürfte selbst für Vielleser mit Schnelllesebegabung eine Herausforderung werden. Lange gab es keine ähnlich dicht mit Spitzentiteln gespickte Saison. Das Gerangel um Aufmerksamkeit wird dementsprechend beträchtlich sein; wie viel für die Verlage dabei auf dem Spiel steht, mag man auch daran erkennen, dass die in den letzten Jahren immer beliebter gewordene Strategie, einzelne besonders wichtige, also auch teure Titel erst nach der Buchmesse zu lancieren, damit sie im Weihnachtsgeschäft reüssieren, in diesem Jahr auffällig verbreitet ist.
Vor allem die internationale Literatur glänzt mit großen Namen und gewichtigen Umfängen: Den Anfang macht Kazuo Ishiguro mit dem mythisch aufgeladenen Kraftwerk aus der Frühzeit Britanniens, "Der begrabene Riese" (31. August, Blessing), gefolgt von Jonathan Franzen, der in "Unschuld" (4. September, Rowohlt) von der DDR durchs Internet bis nach Bolivien der unweigerlichen Verdunklung jugendlicher Ideale nachspürt. "Der schmale Pfad durchs Hinterland" (14. September, Piper), der mit dem letztjährigen Booker-Preis ausgezeichnete Roman des tasmanischen Autors Richard Flanagan, versetzt den Leser in ein japanisches Gefangenenlager während des Zweiten Weltkriegs. Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård, der sich dem Leben ausliefert wie ein Extremsportler den Elementen, führt mit "Träumen" sein autobiographisches Erzählprojekt fort (21. September, Luchterhand). Der Spanier Javier Marías bietet in "So fängt das Schlimme an" (S. Fischer, 24. September) ein Mysterienspiel um Liebe und Eifersucht.
Sodann lässt Richard Ford sein Alter Ego Frank Bascombe in "Frank" (28. September, Hanser Berlin) die Nachwirkungen von Hurrikan Sandy für Amerika begutachten. Seit 2012 mit "Der weiße König" sein multiperspektivischer Einblick in die Ceausescu-Diktatur erschien, gilt der junge ungarisch-rumänische Autor György Dragoman als eine der ganz großen Stimmen Osteuropas: "Der Scheiterhaufen" (6. Oktober, Suhrkamp) wird zeigen, wie berechtigt diese Hoffnungen sind. Und gleich nach der Buchmesse erscheint das neueste Verwirrspiel von Italiens Großmeister Umberto Eco ("Nullnummer", 19. Oktober, Hanser).
Man kann diese - übrigens durchweg männliche - Phalanx großer Namen als Verheißung betrachten, aber auch als Bedrohung. Denn in ihrem Schatten - und jenem der Long- und Shortlists einflussreicher Preise - sind andere großartige Bücher leicht zu übersehen. Und weil es auf die ewige Frage "Was soll ich lesen?" in den nächsten Monaten viele einschlägige Antworten gibt, beschäftigt sich diese Vorschau auf den Herbst lieber mit sechs Lektüren für den zweiten Blick. Sie stammen von sechs erstaunlichen Autorinnen.
Den Anfang macht die Engländerin Jane Gardam, die mit 87 Jahren ihr Debüt auf dem deutschen Buchmarkt gibt: "Ein untadeliger Mann" (24. August, Hanser Berlin) erzählt von Sir Edward Feathers, genannt Old Filth. Der Ausdruck "Filth" steht in seinem Fall für "Failed in London, Try Hong Kong" und hat nichts Schmutziges an sich, im Gegenteil: Old Filth oder Sir Edward ist nicht nur äußerlich "sagenhaft sauber" bis zum reinweißen "Rand seiner alten Fingernägel", sondern erscheint auch sonst wie der dezent nach Blenheim Bouquet duftende Inbegriff des englischen Gentleman, diszipliniert, arbeitsam, wortkarg, als Anwalt und späterer Richter in seiner Zunft legendär.
Zu Beginn des Romans, der den Auftakt einer Trilogie über den Niedergang des Britischen Empire bildet, ist Filth frisch verwitwet, als ihn im Ruhestand auf dem englischen Land ein zweiter Schock ereilt: Ausgerechnet Terry Veneering, sein Rivale im Berufs- wie im Privatleben, zieht ins Haus nebenan. Doch diese alte Fehde bildet nur den Rahmen der eigentlichen Geschichte von Eddie Feathers, die von Malaysia nach Wales und auf eine englische Privatschule führt, wo der mutter- und recht eigentlich auch vaterlose Junge erstmals eine Art von Familie findet. Gardam erzählt die brutale Geschichte dieser Raj-Waise (auch Rudyard Kipling war eine solche), die sich überall fremd und "ohne Hintergrund" fühlt, auf mehreren Zeitebenen und in genau nuancierten Abstufungen von Sand, Creme und Beige mit viel Feingefühl und Empathie, aber zugleich jenem Gran urenglischer, stählerner Ironie, die diese Lektüre dunkler Erfahrungen zu einer hellen Freude macht.
"Wo sind Sie aufgewachsen? Welches ist Ihre Muttersprache? Wie viele Menschen gehörten zu Ihrer Familie? Wie sah die Wohnung, das Haus aus, in dem Sie aufwuchsen? Wie haben sich Ihre Eltern kennengelernt? Was gab es zu essen?" Das sind nur einige Fragen, die Richard, einen jüngst emeritierten Altphilologen, umtreiben, seitdem er zum ersten Mal bewusst Asylsuchende mitten in Berlin wahrgenommen hat. Sie treiben ihn in eine zum Flüchtlingsheim umfunktionierte Kreuzberger Schule und potenzieren sich dort noch: "Wann sind Sie aus Ihrer Heimat weggegangen? Warum? Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Familie? Was haben Sie mitgenommen? Wie haben Sie sich Europa vorgestellt? Was ist anders? Wie verbringen Sie Ihre Tage? Was vermissen Sie am meisten?" Richard, der Homer-Kenner, begibt sich auf seine eigene Odyssee, um Antworten zu bekommen: Jenny Erpenbeck, die geschätzte Autorin von Werken wie "Heimsuchung" und "Aller Tage Abend", hat mit "Gehen, ging, gegangen" (31. August, Knaus) einen beklemmend aktuellen Roman geschrieben über die neuen Nachbarschaften mitten im alten Europa, jenem Warteraum der Politik, in dem die provisorischen Leben der Eingereisten an die rundum eingerichteten, durchgetakteten Leben der Beheimateten grenzen. Doch der Roman ist weit mehr als ein Zeugnis von Nächstenliebe, Scham und Ratlosigkeit. Jenny Erpenbeck weicht den Konflikten, die die Annäherung der Kulturen mit sich bringt, nicht aus. Und was am Ende aufscheint, nämlich Gemeinschaft und Solidarität, erwächst nicht aus guten Absichten allein.
Die Werke der Israelin Zeruya Shalev strahlen stets etwas Unbeirrbares, ja Störrisches aus; es ist die geradezu zwanghafte Emotionalität ihrer Literatur, an der sich die Geister scheiden. Auch in "Schmerz" (14. September, Berlin Verlag) ist der Ton ihrer Ich-Erzählerin Iris rastlos: Seitdem sie vor zehn Jahren bei einem Terroranschlag schwer verletzt wurde, ist ständiger Schmerz ihr Begleiter. Ihre Ehe mit Micki, der an besagtem Tag wieder einmal zu sehr mit einer Partie Schach beschäftigt war, um die Kinder zur Schule zu bringen, scheint am Ende, die Tochter ist aus dem Haus, der Sohn auf dem Sprung. Just als sie das Vakuum im Inneren mit gesteigerter Gehetztheit zu verdrängen sucht, trifft Iris ihre Jugendliebe Eitan wieder, und mit einem Mal scheint ein Neuanfang in greifbarer Nähe. Stoff, Protagonistin, Sprache - zunächst scheint "Schmerz" ein typischer Shalev-Roman. Doch dann gerät mehr ins Wanken als Iris' Selbstgerechtigkeit. Diesmal geht es nicht allein um die Schuld, die fast jede neue Liebe unter Erwachsenen begleitet, sondern auch um die Notwendigkeit, ja sogar Genugtuung von Verzicht. Am Ende erweist sich Iris als die reifste Heldin, die Shalev bisher schuf.
Die Amerikanerin Dorothy Baker war zeit ihres Lebens "sehr traurig und ziemlich deprimiert" über ihre schiefe literarische Karriere. Zwar hatte ihr erster Roman "Young Man with a Horn" 1938 durchaus Erfolg und wurde sogar verfilmt, doch konnte sie mit ihren folgenden Büchern nie daran anknüpfen. Dass Carson McCullers zu den Bewunderern von "Zwei Schwestern" von 1962, ihrem vierten und letzten Roman, gehörte, verwundert nicht angesichts des zielstrebigen, unzimperlichen Tons und der philosophischen Grundierung des Werks, war aber für Baker kein Trost. Als die Autorin 1968 starb, hinterließ sie keine große Trauergemeinde.
Vor einigen Jahren wurden ihr erster und ihr letzter Roman in den Vereinigten Staaten neu aufgelegt, jetzt erscheint "Zwei Schwestern" auch bei uns (23. September, dtv). Es ist eine Art dramatische Variante des Filmklassikers "Die Nacht vor der Hochzeit". Erzählt wird - mal von der einen, dann von der anderen - die Geschichte der Zwillinge Cassandra und Judith, zugespitzt auf jenes Wochenende, an dem Judith heiraten will. Cassandra empfindet diesen Schritt als Aufkündigung der schwesterlichen Symbiose, die stets über solchen Durchschnittserwägungen existiert hatte; indem sie die schwesterliche Eintracht in all ihrer Intensität und Selbstgenügsamkeit noch mal heraufbeschwört, sucht sie Judith umzustimmen. Als dies misslingt, greift sie zu drastischeren Mitteln: Sie belauscht ein Telefonat zwischen Braut und Bräutigam, will den künftigen Schwager vom Zug abholen und sich als Judith ausgeben, schließlich erscheint eine Übersprunghandlung als letzte Chance.
"Sarahs Gesetz", das für mich beglückendste und klügste, zärtlichste und nachhallendste Buch dieser Saison, ist kein Roman (5. Oktober, S. Fischer), sondern ein Porträt, ja ein Doppelporträt. Es enthält wichtige Mosaiksteine der viel größeren Geschichte der Malerin Sarah Schumann, und zu dieser wiederum gehören signifikante Teile der Geschichte der Schriftstellerin Silvia Bovenschen. Seit vierzig Jahren teilen die beiden ihre Leben; zusammen in Berlin leben sie erst, seit ein weiterer Schub ihrer Multiple-Sklerose-Erkrankung es Silvia Bovenschen vor bald zehn Jahren unmöglich machte, in ihre Frankfurter Wohnung zurückzukehren.
Bovenschen verzichtet darauf, dieses Werk der Liebe und des Dankes, der Erinnerung und der Gegenwart an eine Begriffsleine zu legen, wie überhaupt in diesem Buch kein Wort zu viel gemacht wird. "Sarahs Gesetz" handelt vom Wesentlichen zwischen zwei Menschen: dem, was man voneinander wissen kann, dem, was verborgen bleiben muss, und dem, was erfühlt werden darf. Sie wolle nicht eine Wahrheit der Sarah Schumann ausstellen, schreibt Silvia Bovenschen. "Ich will einzig meine liebe Freundin als Erlebnis meines Lebens erstehen lassen." Das gelingt ihr, indem sie schlaglichtartig aus beider Leben erzählt, von den Kriegserlebnissen der zwölf Jahre älteren Gefährtin, von eigenen Kindheitserinnerungen, von Sarahs Weg zur Kunst, von ihrer Malerei, von einer kurzen Ehe und dem Versuch, sich als Frau allein in Italien durchzuschlagen.
Wer ihr "Älter werden" gelesen hat, weiß um Bovenschens Gabe, schreibend unter Tränen zu lachen. Auch "Sarahs Gesetz" ist ganz persönlich und dabei vollendet diskret, mal witzig, mal rauh, immer wahrhaftig. Die Intimität liegt im Ton, nicht im Mitgeteilten. Mit diesem Buch hat Silvia Bovenschen ein Gedächtnis-Bildnis geschrieben, wie Sarah Schumann sie malt und sie selbst sie einmal beschrieben hat: im Wechsel zwischen überscharfer Kontur und Schemenhaftigkeit den Menschen in seiner Einzigartigkeit vergegenwärtigend, immer changierend zwischen innerer Gewissheit und unfassbarer Flüchtigkeit.
Im Mittelpunkt von "Die Gestirne" (9. November, btb) - wenn man einen solchen denn überhaupt ausmachen kann in dieser Wundertüte von Roman, der in deutscher Übersetzung mindestens tausend Seiten haben wird - steht eine Liebesgeschichte, so unwahrscheinlich wie das Zusammenkommen von Sonne und Mond. Die komplexe Handlung, die von Sternbildern und Planetenstellungen überzeugend gesteuert wird, setzt ein am 27. Januar 1866 - "Merkur im Haus des Schützen" - im Rauchzimmer des Crown Hotels in Hokitika, einer Goldgräberstadt im wilden Südwesten Neuseelands. Die Ankunft des jungen Schotten Walter Moody nach langer und beängstigender Überfahrt bringt die Erzählung einer großangelegten Verschwörung in Fahrt, die sich in Duktus und Farbigkeit, Kapitelankündigungen und Namensgebungen lustvoll ostentativ an die große englische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts anlehnt, von Dickens über Brontë bis Conrad, sich dann aber immer weiter und rasanter verästelt, so dass der Leser sich gelegentlich fragt, ob alles noch mit rechten Dingen zugeht: Die Protagonisten und Perspektiven wechseln, vermeintliche Gute erweisen sich als Fieslinge, Bösewichte als liebenswürdig, und außer auf die Astrologie scheint auf nichts Verlass.
Die junge Neuseeländerin Eleanor Catton - in wenigen Wochen wird sie dreißig - hat mit "Die Gestirne" einen so altmodischen wie berückend zeitgemäßen Roman über den uralten Dialog zwischen Zufall und Schicksal verfasst. Er wird gespeist aus einem staunenswerten Überfluss an Ideen und Talent, ist dabei gelehrt, unterhaltsam und sehr, sehr witzig.
FELICITAS VON LOVENBERG
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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