Seit über hundert Tagen oder seit über hundert Tagen plus acht Jahren herrscht Krieg in der Ukraine und jeden Tag werden wir mit Neuigkeiten aus einem Land konfrontiert, über das die meisten von uns bisher nicht viel gewusst haben, obwohl es flächenmäßig das zweitgrößte Land Europas ist. Dass das
Interesse an diesem Staat steigt, kann man gut an dem vermehrten Angebot an Literatur, Podcasts und…mehrSeit über hundert Tagen oder seit über hundert Tagen plus acht Jahren herrscht Krieg in der Ukraine und jeden Tag werden wir mit Neuigkeiten aus einem Land konfrontiert, über das die meisten von uns bisher nicht viel gewusst haben, obwohl es flächenmäßig das zweitgrößte Land Europas ist. Dass das Interesse an diesem Staat steigt, kann man gut an dem vermehrten Angebot an Literatur, Podcasts und Dokumentationen zum Thema beobachten, und so stieß ich, nachdem ich einige Romane, die in der Ukraine spielten, gelesen hatte, auf das Sachbuch „Entscheidung in Kiew – Ukrainische Lektionen“ von Karl Schlögel.
Für alle, die, wie ich, ein Buch suchen, dass ihnen die Geschichte der Ukraine näher bringt und ihnen vielleicht auch verständlicher macht, warum es zu diesem Krieg kommen konnte, ist „Entscheidung in Kiew“ wohl nicht die richtige Wahl. Was Schlögel, der ohne Frage über ein immenses Wissen verfügt, hier präsentiert, sind eher literarische Sightseeing-Touren aus acht Städten, die anhand von Gebäuden und Gedenkstätten und von Zitaten von Zeitgenossen gestützt, sich der Geschichte vor Ort nähern. Viele dieser Porträts sind älteren Datums, die neuesten Kapitel stammen von 2015 nach der Besetzung der Krim.
Mir persönlich hat „Entscheidung in Kiew“ nicht wirklich weiter geholfen. Zum einen lag das sicher daran, dass ich zum Hörbuch gegriffen hatte (souverän gelesen von Timo Wisschnur) und als eher visueller Typ ziemlich verloren war. Dass Schlögel sehr dicht, um nicht zu sagen überladen, schreibt, hat es auch nicht einfacher gemacht, zumal er nicht damit zu rechnen scheint, dass seine Leser dermaßen ungebildet daherkommen, wie ich. Zu Begriffen wie „Massaker von Babij Jar“ und „Holodomor“, die mir in letzter Zeit öfter begegnet sind, konnte ich mir vielleicht das ein oder andere zusammenreimen, wirklich klüger bin ich aber immer noch nicht. Außerdem erschwert die Einteilung nach Städten einen chronischen Verlauf der Geschichte des Landes zu erfassen. Was mir aber am meisten gefehlt hat, waren Begegnungen mit Menschen, das Zusammensein mit der Bevölkerung, der Schlögel zwar eine umwerfende Gastfreundschaft zuschreibt, sie aber sonst weitestgehend außen vor lässt. Wie viel lebendiger hätten die Städte mit ein paar mehr eigenen Anekdoten und ein paar weniger zitierten Passagen werden können.
Sollte mich jemand fragen, ob er dieses Buch lesen soll, würde ich nicht davon abraten. Aber ich würde vorschlagen, sich viel Zeit zu nehmen und jeden Ort, Namen oder Gedenkplatz im Internet nachzuschlagen und anzuschauen. Wenn man auf diese Weise vorgeht, kann man bestimmt einiges aus der Lektüre mitnehmen. Denn was Schlögel kann, ist, sein Wissen mit Gefühl niederzuschreiben. Man merkt ihm an, wie ihm beide Länder, die Ukraine und Russland, am Herzen liegen. So fand ich gerade die ersten Kapitel, in denen er erklärt, wie er sein Buch aufgebaut hat und wie seine Beziehung zu diesem Teil der Erde entstanden ist und sich entwickelt hat, am stärksten.
Ein Sachbuch, das sich fraglos auf eine eher ungewöhnliche Art seinem Thema annähert. Und alleine darum schon aus der Masse heraussticht und seine Leser finden wird.