Ein Mann quält sich schon seit vielen Jahren mit seiner manisch-depressiven Erkrankung ab: in den depressiven Phasen erscheint alles sinnlos und leer, aber die manischen Phasen haben sein Leben noch einmal auf ganz andere Weise zerstört: so vieles, was ihm lieb war, hat er in diesen Zeiten verloren:
Freundschaften, berufliche Möglichkeiten, liebgewonnene Erinnerungsstücke, Teile der eigenen…mehrEin Mann quält sich schon seit vielen Jahren mit seiner manisch-depressiven Erkrankung ab: in den depressiven Phasen erscheint alles sinnlos und leer, aber die manischen Phasen haben sein Leben noch einmal auf ganz andere Weise zerstört: so vieles, was ihm lieb war, hat er in diesen Zeiten verloren: Freundschaften, berufliche Möglichkeiten, liebgewonnene Erinnerungsstücke, Teile der eigenen Persönlichkeit. Jede manische Episode nimmt ihm etwas, das er danach nicht mehr zurück bekommen kann, so erlebt er das, und das geht schon so lange so. Auch das Verfassen eines Memoirs über das Thema (hier sieht man die zum Teil autofiktionalen Bezüge auch in diesem Buch; der Autor hat davor in "Die Welt im Rücken" über seine bipolare Erkrankung geschrieben) hat ihn nicht retten können, er erlebt sein Leben als beschwerlich, von allen entfremdet und sinnlos. Auch kleine Lichtblicke wie die Beziehung zu einer Frau können dieses Empfinden nicht umdrehen.
Als er vom "Haus zur Sonne" erfährt, klingt das also nach einem verlockenden Deal: dort wird das Bestmögliche getan, um lebensmüde Menschen mit Hilfe von Simulationen alles erleben zu lassen, was sie sich wünschen: bewunderter Rockstar sein, neue Sportarten ausprobieren, ins Weltall fliegen, noch einmal bestimmte Situationen aus dem eigenen Leben wiedererleben oder gar Verstorbene treffen: alles ist möglich! Die Menschen dort dürfen eine nicht näher definierte Anzahl solcher Simulationen erleben und eine nicht näher bestimmte Zeit dort verbringen, während sie offiziell auf der Welt schon als tot gelten (so wird es ihnen zumindest dort von den Ärzten gesagt). Um am Ende das zu bekommen, "was sie ohnehin wollen": einen sanften, frühzeitigen Tod. Auch hier wird in Bezug auf die Modalitäten auf ihre Wünsche eingegangen, doch das Ende steht fest - und einmal im "Haus zur Sonne" scheint es keinen Weg mehr hinaus zu geben. Schließlich ist das Teil dieses gesellschaftlichen Paktes mit dem Teufel: es werden eine Menge technologische und personelle Ressourcen in den Komfort und die Wunscherfüllung der Bewohnerinnen und Bewohner investiert, zum Ausgleich dafür, dass deren baldiges Ende bevor steht und sie die Sozial- und Gesundheitskassen danach nicht länger beanspruchen werden.
Geschrieben ist das Buch auf äußerst deprimierende und herunterziehende Art und Weise: sehr authentisch dafür, dass wir uns im Kopf eines manisch-depressiven Menschen befinden, der gerade in einer depressiven Episode ist und seinem Leben ein Ende setzen will. Diese Darstellung ist unglaublich realistisch und man lernt dabei sehr viel über das Innenleben solcher Menschen. Zum Lesevergnügen macht das dieses Buch aber nicht, man muss diese Düsternis aushalten und sich davon gut distanzieren können. Deshalb empfehle ich das Buch explizit nur Menschen mit einem stabilen psychischen Zustand. Wer schon zur Depression neigt, der halte sich von diesem Buch fern, es könnte sehr triggern und eigene suizidale Tendenzen verstärken.
Es ist ein sehr kluges Buch, nicht nur aufgrund der oben erwähnten authentischen Darstellung des dahinterliegenden Störungsbildes, sondern auch aufgrund der gesellschaftlichen Fragen, die es aufwirft: ist es legitim, unser eigenes Ende zu bestimmen? Sollen Institutionen dabei unterstützen? Welcher Teil in Menschen ist es, der so unbedingt sterben möchte, und sollten wir diesem zugestehen, die alleinige Entscheidung darüber zu treffen? Und was ist, wenn der betroffene Mensch seinen Sterbewunsch wieder zu hinterfragen beginnt: nachdem er schon schriftlich zugestimmt hat, sich in der betreffenden Institution befindet und viele der Wunschsimulationen in Anspruch genommen hat?
Das Buch wurde völlig zu Recht für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert. Es ist anspruchsvolles, gut geschriebenes, originelles und sehr nachdenklich machendes Werk mit vielen klugen Gedanken, die Empathie für psychisch erkrankte Menschen fördern können.
Ich kann die Lektüre insbesondere jenen, die sich für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und für das Innenleben depressiver oder bipolarer Menschen interessieren, und kein Problem mit einem fordernden, anstrengenden und oft niederdrückenden Lektüreerlebnis voll von Dunkelheit haben, sehr empfehlen. Es lohnt sich, durchzuhalten, man kann aus diesem Buch viel mitnehmen und es hallt lange nach.