Thomas Melle hat sich längst mit seinen stark autobiografisch geprägten Büchern in der deutschsprachigen Literaturlandschaft etabliert. Mit „Haus zur Sonne“ erreicht dieses Schaffen nun einen neuen Höhepunkt, in dem persönliche Erfahrungen und fiktionale Elemente zu einer intensiven Darstellung
psychischer Erkrankung, insbesondere der Depression, verschmelzen.
Im Zentrum steht eine staatlich…mehrThomas Melle hat sich längst mit seinen stark autobiografisch geprägten Büchern in der deutschsprachigen Literaturlandschaft etabliert. Mit „Haus zur Sonne“ erreicht dieses Schaffen nun einen neuen Höhepunkt, in dem persönliche Erfahrungen und fiktionale Elemente zu einer intensiven Darstellung psychischer Erkrankung, insbesondere der Depression, verschmelzen.
Im Zentrum steht eine staatlich finanzierte Klinik, die Menschen, die an Depressionen und einer tiefen Todessehnsucht leiden, einen kontrollierten Ausstieg aus dem Leben ermöglicht. Dieser geschieht nicht abrupt, sondern auf einem Weg, der durch Halluzinationen begleitet wird. In diesen Visionen erfüllt sich den Patientinnen und Patienten eine Art letzte Wunschwelt, die ihnen eine scheinbare Alternative zur unerträglichen Realität eröffnet. Melle verknüpft diesen Rahmen mit den eigenen inneren Abgründen, die er seit Jahren literarisch bearbeitet.
Von Beginn an werden die Leser in eine Atmosphäre gezogen, die von Schwere und Düsternis geprägt ist. Das Grau, das den Erzähler umgibt, spiegelt sein letztes Kapitel im Ringen mit der manischen Depression wider. Schon früh entfaltet sich eine Sogwirkung: Die plastische Schilderung des inneren Chaos, der schmerzhaften Gedanken und der quälenden Isolation wirkt beklemmend, beinahe erdrückend. Melle gelingt es, den schmerzhaften Prozess des Krankseins nicht nur zu beschreiben, sondern fühlbar zu machen. Dabei wird deutlich, dass die Depression längst nicht mehr nur ein innerer Kampf ist, sondern auch in der äußeren Welt Spuren hinterlässt – sei es durch Entfremdung, den Verlust sozialer Nähe oder den Abbau intellektueller Fähigkeiten.
Präzise und schonungslos offen entfaltet Melle in diesem Roman sein Innenleben. Trotz der Nähe zum Autobiografischen bleibt der Text auf einer universellen Ebene lesbar. Die persönliche Erfahrung wird zu einem Sinnbild für ein weit verbreitetes Lebensgefühl, das sich in unserer Zeit verstärkt zeigt: ein Weltschmerz, der nicht individuell bleibt, sondern auch gesellschaftliche Relevanz besitzt.
So sehr die Geschichte von Hoffnungslosigkeit getragen wird, so blitzen dennoch immer wieder Momente des Lichts auf. Besonders im letzten Teil öffnet sich der Roman einer Haltung, die dem Leben neu begegnet – vorsichtig, tastend, aber spürbar positiv. „Haus zur Sonne“ ist somit nicht ausschließlich ein Buch über Verzweiflung, sondern auch eines über die Möglichkeit, trotz allem weiterzugehen.
Vergleichbare Werke gibt es viele, doch selten gelingt eine solche Verbindung aus Offenheit, Reflexion, literarischem Anspruch und menschlicher Tiefe. Melle bleibt nah bei sich, erweitert aber den autobiografischen Blick zu einer Darstellung, die über das Persönliche hinausweist. Damit gelingt es ihm, die Auseinandersetzung mit Depression auf eine künstlerische Ebene zu heben, die sowohl berührt als auch reflektieren lässt.
Die Parallelen zu Thomas Manns „Der Zauberberg“ sind unverkennbar – sowohl in der abgeschlossenen Welt der Klinik als auch in der Darstellung der Unfähigkeit, im „normalen“ Leben zu bestehen. Wo Heinz Strunk 2024 mit seinem Versuch einer modernen und bereichernden Neufassung des Klassikers scheiterte, überzeugt Melle gerade durch die Abwesenheit von Imitation. „Haus zur Sonne“ sucht nicht nach Effekten, sondern wagt einen radikalen, ehrlichen Zugang zu einem schweren Thema, der mit den Anforderungen unserer modernen Gesellschaft harmonisiert.
Der Roman ist knapp genug gehalten, um nicht ins Überbordende zu geraten, aber dicht genug, um die Wucht der Gefühle zu transportieren. Glaubwürdigkeit und literarische Qualität gehen hier Hand in Hand. Für Betroffene kann das Buch Orientierung bieten, für die Literatur ist es ein ernstzunehmender Beitrag, der nachdrücklich in Erinnerung bleibt. Für mich zählt „Haus zur Sonne“ in jedem Fall zu den stärksten Kandidaten für den Deutschen Buchpreis.