Als der 65-jährige Hans einen Anruf erhält, glaubt er, seinen Ohren nicht zu trauen. Es ist Daniel, sein Sohn, der kurz nach dessen Geburt vor 40 Jahren im Krankenhaus von Naumburg an der Saale für tot erklärt wurde. Ohne vorherige Warnung, ohne irgendwelche Anzeichen von Krankheiten. Seine Frau
Katrin hatte von Beginn an Zweifel an dieser Geschichte, doch mittlerweile ist auch Katrin seit langer…mehrAls der 65-jährige Hans einen Anruf erhält, glaubt er, seinen Ohren nicht zu trauen. Es ist Daniel, sein Sohn, der kurz nach dessen Geburt vor 40 Jahren im Krankenhaus von Naumburg an der Saale für tot erklärt wurde. Ohne vorherige Warnung, ohne irgendwelche Anzeichen von Krankheiten. Seine Frau Katrin hatte von Beginn an Zweifel an dieser Geschichte, doch mittlerweile ist auch Katrin seit langer Zeit tot. Wie geht ein Vater damit um, wenn er erkennt, dass er nicht genug getan hat, um das Schicksal seines Kindes zu verfolgen? Und wie reagiert ein Sohn, wenn er nach so langer Zeit eine ganz neue Identität aufgezwängt bekommt? Davon und von so viel mehr erzählt Matthias Jügler in seinem neuen Roman "Maifliegenzeit", der jüngst im Penguin Verlag erschienen ist.
Ursprünglich wollte Jügler über das Thema "Zwangsadoptionen in der DDR" schreiben, über Eltern, die vom Unrechtsstaat aus verschiedensten Gründen als untauglich eingestuft wurden, ein Kind zu erziehen. Ohne es gegeneinander aufwiegen zu wollen, wirkt das Sujet von "Maifliegenzeit" ungleich dramatischer. Es geht um Eltern, deren Kinder unmittelbar nach der Geburt für tot erklärt wurden, um offenbar linientreue Elternpaare mit deren Erziehung zu beauftragen. Es geht aber auch um Väter und ihre Söhne, um ihre komplizierten Beziehungen und um verschiedene Generationen von Eltern. Und es geht um die Liebe zur Natur und zur Region und nicht zuletzt um das Angeln.
Denn "Maifliegenzeit" ist auch eine warmherzige Liebeserklärung an die Unstrut, einen Nebenfluss der Saale, und ihre Bewohner: die Fische. Detailliert und voller Respekt erzählt Jügler von diesen Tieren. Von der Barbe, die sich am liebsten ihr Leben lang versteckt hält, von der goldschimmernden Rotfeder und vom Karpfen, der aus Mitleid vom jungen Hans kurzerhand mal eben zurück ins Wasser geworfen wird. Und tatsächlich sind diese Naturbeschreibungen, die liebevollen Details, das große Plus dieses Romans. Jüglers Sprache ist einfach bezaubernd. Wer gedacht hat, dass ein Roman über das Angeln langweilig sein muss, der möge dieses gerade einmal 150 Seiten umfassende kleine Werk vorurteilsfrei zur Hand nehmen und sich eines Besseren belehren lassen.
Doch auch auf der Handlungsebene weiß der Roman zu überzeugen. Wie Ich-Erzähler Hans nicht nur in seine Kindheit zurückblickt, sondern auch, wie er sich auf die langjährige Suche nach seinem Sohn und nach der Wahrheit begibt, liest sich für ein so stilles Buch bemerkenswert spannend. Zwischenzeitlich wähnt man sich fast in einem Krimi. Dabei gelingt es Jügler hervorragend, die Bilder der Fische mit den skandalösen Ereignissen rund um die Suche nach Daniel kongenial zu verknüpfen. Scheinbar spielend umgeht er dabei sogar eine möglicherweise drohende Kitschgefahr. Wenn beispielsweise Hans in einer unglaublich anmutenden Szene dazu gezwungen wird, eigenhändig das Grab seines Sohnes zu schaufeln. Oder wenn mehrere Seiten lang die titelgebende Maifliegenzeit hinreißend schön erklärt wird. Jügler erzählt poetisch und bildhaft, aber niemals übertrieben. "Maifliegenzeit" ist von vorn bis hinten anrührend, aber niemals rührselig.
Da stört es letztlich auch nicht, dass man nach dem Zuschlagen des Buches ein wenig das Gefühl hat, dass das Finale im Vergleich zu den vorangegangenen 140 Seiten vielleicht nicht der Höhepunkt des Romans ist und dass einige Fragen offen bleiben. Schließlich setzt der Autor auf durchaus mündige Leser:innen - anders als es das DDR-Regime mit seinen Bürger:innen tat.