Das Kind ist tot. Sieben Jahre lang hat sich das Kindermädchen Estela um Julia gekümmert, ihr das Essen gemacht, ihre Wäsche gewaschen. Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Davon erzählt Estela in einem Verhör - und Alia Trabucco Zerán in ihrem neuen Roman "Mein Name ist Estela", der jüngst
in der deutschen Übersetzung aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy bei Hanser Berlin…mehrDas Kind ist tot. Sieben Jahre lang hat sich das Kindermädchen Estela um Julia gekümmert, ihr das Essen gemacht, ihre Wäsche gewaschen. Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Davon erzählt Estela in einem Verhör - und Alia Trabucco Zerán in ihrem neuen Roman "Mein Name ist Estela", der jüngst in der deutschen Übersetzung aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy bei Hanser Berlin erschienen ist.
Es ist ein merkwürdiger Roman. Das liegt zunächst einmal an der ungewohnten Erzählform, bei der Estela sich direkt an ihr Publikum richtet. Das ist einerseits die Zuhörerschaft beim Verhör, offenbar versteckt hinter einer nur einseitig einsehbaren Glasscheibe und andererseits ist es natürlich die Leserschaft. Wenn Estela also im ersten Satz fragt "Mein Name ist Estela, können Sie mich hören?", so fühlt man sich direkt von ihr angesprochen. Und auf den nächsten 240 Seiten wird man keine andere Erzählstimme vernehmen.
Grundsätzlich ist es eine originelle Erzählstimme, schließlich kommt es in der Literatur immer noch selten vor, von der Hauptfigur so unmittelbar konfrontiert zu werden. Allerdings ist die Umsetzung ein wenig holprig. Ständig unterbricht Estela sich selbst, um sich an die Zuhörerschaft zu wenden. Fast hat man das Gefühl, als existierte diese nur als Mittel zum literarischen Zweck. Das Erstaunliche daran ist, dass Estela die Schwächen ihrer Erzählung - und somit des Romans - selbst bemerkt. "War das ein Gähnen?", fragt sie an einer Stelle, "das ist reines Gelaber", befindet sie später. Und man kann ihr durchaus zustimmen, denn der Roman hat merkliche Längen. Hinzu kommt, dass diese Ausbrüche recht stark den Erzählfluss stören. So, als müsste Zerán die Leser:innen immer und immer wieder daran erinnern, dass Estela gerade verhört wird.
Dabei ist die Ausgangssituation durchaus spannend. Natürlich möchte man wissen, warum das Hausmädchen verhört wird. Hat sie den Tod des ihr anvertrauten Kindes verschuldet? Ist sie gar eine Mörderin, wie das Kindermädchen in Leïla Slimanis "Dann schlaf auch du"? Zerán gelingt es in diesen Momenten gut, die Spannung subtil aufzubauen. Die Abschweifungen, die Estela unternimmt, sind nachvollziehbar, werden aber zu häufig eingesetzt. Immer wieder gibt sie Hinweise darauf, dass die folgenden Aussagen sehr wichtig für die Aufklärung des Todesfalls seien. Letztlich entpuppen sich diese im Finale aber als leere Versprechungen, ohne genauer darauf eingehen zu können.
Was der Autorin misslingt, ist die Mischung aus Kriminalfall und Gesellschaftskritik. Letztere wird im Roman überdeutlich und bisweilen plakativ dargestellt. Julias Eltern - der Vater ist Arzt, die Mutter arbeitet in einem führenden Holzunternehmen - glänzen einerseits durch Abwesenheit, andererseits durch ihre Oberflächlichkeit. Zwar behandeln sie ihre Angestellte gut, wie Estela hinreichend erklärt, doch sowohl ihr, als auch ihrer Tochter gegenüber mangelt es an Empathie. Passend zum Beruf der Mutter wirkt die Zusammenführung der beiden Stränge im Finale hölzern und nicht konsequent. Zwar muss nicht alles auserzählt werden, aber 240 Seiten lang, etwas zu versprechen, was nicht eingehalten wird, ist dann doch recht enttäuschend.
Sprachlich ist der Roman vor allem dann interessant, wenn Estela aus ihrem Dienstmädchen-Alltag ausbricht und sich beispielsweise an ihre Kindheit erinnert. Plötzlich wirkt die Sprache berauschend und frei, so wie es Estela als Kind zu dieser Zeit wohl auch noch war. In das Korsett des Verhörs eingeschnürt, erzählt die Protagonistin ansonsten oft recht nüchtern, manchmal philosophisch. Wenn man sich über mangelnde Authentizität beklagen möchte, dass eine Angestellte eines eher niederen Ranges so daherreden kann, liefert die Autorin nach einigen Seiten gleich die Erklärung dazu: Estela hat als Kind Unmengen an Büchern gelesen.
Insgesamt ist "Mein Name ist Estela" ein nur in Ansätzen gelungener Roman, der in seiner Mischung aus Krimi und Gesellschaftskritik vielleicht zu viel will und letztlich daran scheitert. Ambitioniert ist das Ganze aber in jedem Fall, so dass man das Buch zuschlägt und der Protagonistin zurufen möchte: "Ja, Estela, wir haben dich gehört!"
2,5/5