Vom Aufwachsen mit einer Mutter, die fehlt:
"Perlen" ist das Debüt der britischen Autorin Siân Hughes. Sie hat Jahrzehnte daran gearbeitet, verschiedene Versionen erstellt und immer wieder verworfen, bis sie schließlich diese veröffentlicht hat, und damit auf Anhieb auf der Longlist des
renommierten Booker Prize im Jahr 2023 gelandet ist.
Es ist ein ruhiges, nachdenkliches, unaufgeregtes…mehrVom Aufwachsen mit einer Mutter, die fehlt:
"Perlen" ist das Debüt der britischen Autorin Siân Hughes. Sie hat Jahrzehnte daran gearbeitet, verschiedene Versionen erstellt und immer wieder verworfen, bis sie schließlich diese veröffentlicht hat, und damit auf Anhieb auf der Longlist des renommierten Booker Prize im Jahr 2023 gelandet ist.
Es ist ein ruhiges, nachdenkliches, unaufgeregtes Buch mit viel Poesie und schöner Sprache. Es geht um Marianne, die im mittleren Alter auf ihr Leben zurückblickt, mit speziellem Fokus darauf, was das Verschwinden ihrer Mutter, als Marianne acht Jahre alt war, mit ihr und mit der Familie gemacht hat. Jedes Kapitel beginnt mit (im englischsprachigen Original belassenen) Kinderreimen, viele davon mit sehr düsterem Ende, etwa ganz am Anfang:
"Adam and Eve and Pinch-Me.
Went down to the river to bathe.
Adam and Eve were drowned.
Who do you think was saved?" (S.5)
Wir erfahren, dass die Mutter der Erzählerin ihr viele dieser Reime beigebracht hat und diese Teil der Spiele waren, die sie mit ihrer Tochter gespielt hat... meist ohne dass das kleine Mädchen den düsteren Hintergrund kannte oder verstand. Die Mutter, so wie wir sie durch die Augen der Tochter kennen lernen, muss eine ganz besondere Persönlichkeit gewesen sein: individualistisch und kreativ, naturverbunden und frei, aber auch sehr verwundbar und sensibel.
Schließlich wird sie eines Tages, als Marianne acht ist und ihr kleiner Bruder noch ein Baby, das gestillt wird, mitten am Tag alles stehen und liegen lassen und verschwinden. Die Polizei wird eine Fußspur im Schlamm finden, die in den Fluss führt und so wird vermutet, dass die Mutter sich ertränkt hat, vielleicht aus einem Anflug von postpartaler Depression heraus, auch wenn die Leiche nie gefunden wird. Auftauchen wird sie jedenfalls nie wieder und die Familie - der Vater, das 8-jährige Mädchen und das kleine Baby - muss ohne sie zurecht kommen.
Mariannes Vater Edward ist eine Lichtgestalt in diesem Buch, er macht das Beste aus der Situation, bemüht sich, den Kindern ein guter Vater zu sein, für sie da zu sein und gleichzeitig in seinem Beruf als Historiker an der Universität Geld zu verdienen. So sehr er sich auch bemüht, natürlich bleibt eine Lücke, emotional und auch organisatorisch und finanziell. Es ist nicht mehr möglich, in dem geliebten eigenen Haus am Land zu bleiben, zu abgelegen liegt dieses, um dort Kinder aufzuziehen, die nur mehr einen Elternteil haben, der beruflich oft abwesend sein muss. Also wird schweren Herzens das Haus aufgegeben und weiter in die Stadt gezogen.
Marianne wächst ohne Mutter heran, erlebt Verschiedenes, wünscht sich lange erfolglos ein Kind und wird schließlich dann ungeplant schwanger von einem Mann, der gerade beschlossen hat, sein Leben kinderlos verbringen zu wollen. Also wird sie alleinerziehende Mutter und stürzt kurz nach der Geburt in eine postpartale Psychose... zum Glück ist ihr liebevoller Vater da, um sie aufzufangen und sie erholt sich wieder.
Die eigene Verletzlichkeit wird ihr in ihrer Mutterschaft noch einmal anders bewusst und sie findet passende Worte dazu, über den "Notausgang Suizid", der den Nachkommenden eröffnet wird, sobald jemand in der Familie diesen Weg gewählt hat: "Man sollte ja meinen, ich wäre der letzte Mensch auf Erden, der sich schnell verabschieden will, schließlich weiß ich ja, wie es ist, zurückgelassen zu werden. Trotzdem gehöre ich zur Hochrisikogruppe. Wenn eine nahestehende Person in den Fluss geht und nie mehr daraus auftaucht, bedeutet das, dass diese Möglichkeit auch uns anderen offensteht. Sie leuchtet dann in unserem Kopf auf wie eins dieser grünen Schilder, die man über den Notausgängen am Ende von Hotelfluren sieht,..." (S. 208/209)
Doch zum Glück gibt es auch vieles an Gutem und an Ressourcen in Mariannes Leben und so wird sie ihren eigenen Umgang mit ihrer Verletzlichkeit finden und ihre Tochter beim Heranwachsen begleiten können.
Es ist also ein dunkles und tiefgründiges Thema, das dieser Roman behandelt. Wie viel Autobiographisches drin steckt, weiß ich nicht. Jedenfalls handelt es sich um eine Autorin, die ihr Thema und die psychischen Zustände ihrer Figuren sehr gut versteht und empathisch und mit treffenden Worten und Bildern zu beschreiben versteht. Insgesamt ist es ein Buch, das ruhige Momente braucht, in denen man sich darauf einlässt. Es gibt kaum größere Spannungsmomente... dass die Mutter verschwunden bzw. höchstwahrscheinlich verstorben ist, wissen wir ziemlich von Anfang an, und ebenfalls, dass Marianne es zumindest bis ins mittlere Erwachsenenalter geschafft hat und nun selbst eine heranwachsende Tochter hat - denn aus dieser Perspektive wird erzählt.
Der Reiz des Buches liegt also weniger in der Spannung, als in der tiefgründigen Figuren- und Charakterstudie und dem Porträt einer zutiefst verwundeten Familie, die doch auf ihre Art versucht, das Beste daraus zu machen. Ich habe das Buch gerne gelesen und kann es allen empfehlen, die bereit sind, sich darauf einzulassen.