Die junge ehrgeizige Strafverteidigerin Tessa Ensler ist mir ein bisschen unheimlich, als sie die Bühne des Londoner Gerichtssaals betritt. Eiskalt mit allen Wassern gewaschen, treibt sie ZeugInnen im Kreuzverhör vor sich her und erwirkt Freispruch auf Freispruch. Auch und vor allem für Angeklagte
sexueller Übergriffe.
Sie fragt sich nicht, ob die Mandanten ES getan haben oder nicht, für sie…mehrDie junge ehrgeizige Strafverteidigerin Tessa Ensler ist mir ein bisschen unheimlich, als sie die Bühne des Londoner Gerichtssaals betritt. Eiskalt mit allen Wassern gewaschen, treibt sie ZeugInnen im Kreuzverhör vor sich her und erwirkt Freispruch auf Freispruch. Auch und vor allem für Angeklagte sexueller Übergriffe.
Sie fragt sich nicht, ob die Mandanten ES getan haben oder nicht, für sie zählt nur das Gesetz und die juristische Wahrheit. Sie versteht sich als Sprachrohr des Gesetzes, die Entscheidung über Schuld und Unschuld trifft das Gericht. Das Gericht funktioniert dabei wie ein Theater, in dem jede*r seine Rolle spielt, seine Perücke aufsetzt, seine Robe überstreift, seine Position einnimmt und seinen Text draufhat. Ihre Rolle spielt sie perfekt. Und genießt sie:
„Dieses Sonnen im Augenblick, der langsame Sieg. Es ist ein Gefühl von Macht, das Gefühl die Situation komplett in der der Hand zu haben – und das Gegenüber weiß das.“ S. 152
Dabei hatte Tessa es schwer: in der Welt der Elite-Uni Cambridge und des Londoner Gerichts zählt Herkunft mehr als Können. Sie kommt aus prekären Verhältnissen am Rande Londons. Im Umgang mit ihrer Mutter und ihrem zu Gewalt neigenden Bruder wird die toughe Tessa weich, unsicher und verletzlich, doch springt sie auch hier in eine Rolle: die der Tochter und Schwester, die mit starkem wütendem Trotz den familiären Zusammenhalt verteidigt.
Beide Rollen stecken voller Gewissenskonflikte, in die ich voll mit hineingezogen werde. Funktioniert Gerechtigkeit wirklich so systematisch und für jeden? Zweifel regen sich leise und ohne moralischen Zeigefinger.Tessa nutzt ihre weiblichen Attribute sehr gezielt, insbesondere als weibliche Verteidigerin von männlichen Sexualstraftätern. Wie ist dann sexistisches Verhalten ihr gegenüber zu bewerten? Wo sind die Grenzen und sitzen Reste patriarchaler Glaubenssätze auch in meinen Genen?
Liebe Bookies, lest das! Es macht etwas mit Euch. Verlasst Euch auf die Wahrheit des Blurbs von Mareike Fallwickl:
„Prima facie“ ist so viel mehr als ein Roman: eine scharfe Anklage, ein Schritt-für-Schritt-Prozess, in dem wir uns für Zeugen halten, bis wir erkennen, dass wir alle schuldig sind. So muss Literatur sein, die etwas bewirken will. Dieses Buch ist für alle, die nicht länger nach den Gesetzen des Patriarchats leben wollen!“
ABER, liebe Plot-Begeisterten, es ist ein AUCH ein fesselnder ROMAN mit Dialogen und Perspektivwechseln, die den Spannungsbogen aufs Äußerste ziehen, mit einem krassen Wendepunkt, an dem die Rollen durchgetauscht werden und das Leben der Anwältin in dramatischer Weise auf den Kopf gestellt wird.
Atemlos folge ich der schnörkellos, klar und pointiert erzählten Handlung. Ich habe das Buch kaum aus der Hand legen können.
Der Roman basiert auf Suzie Millers sehr erfolgreichem Theaterstück, das am Broadway und Londoner Westend gefeiert wird, und an vielen deutschen Theatern im Programm ist. Es ist Suzie Millers erster Roman in einer großartigen Übersetzung von Katharina Martl.