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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Von wegen Fraß der Würmer: Das Sachbuch "Radieschen von unten" nähert sich dem Tod mit Respekt, Ehrlichkeit und Faszination.
Von Oliver Jungen
Sterben ist für Anfänger. Profi kann man in dieser Disziplin kaum werden: Es ist der eine Auftritt, für den es keine Generalprobe und keine Wiederholung gibt. Und doch ist ein guter Tod den Menschen seit Urzeiten wichtig. Die spätmittelalterliche "Ars moriendi" gehört unter den Lehren des vorbildlichen Abtretens schon zu den neueren. Die Relevanz des Themas erklärt sich von selbst: Gestorben wird rücksichtslos und überall, auch im Jugend- und sogar im Kinderbuch. Meist geht es um das Akzeptieren der Trauer beim Tod eines geliebten Menschen. Dass man dem klapprigen Gevatter manchmal besser mit Humor beikommt, zeigten vor drei Jahren Christian Y. Schmidt und Ulrike Haseloff mit ihrer so anarchischen wie einfühlsamen Kinderbuch-Satire "Der kleine Herr Tod": ein Sensenmann mit Burnout.
Noch einmal anders nähert sich das nun erschienene Buch "Radieschen von unten" dem Thema an. Es ist ein grundehrliches und hochsensibles Kindersachbuch über das Sterben, das diesen verstörend traurigen Vorgang als nicht minder spannendes, teils sogar kurioses biologisches Abenteuer vor Augen führt. Die Autorin Katharina von der Gathen und die Illustratorin Anke Kuhl sind nach mehreren erfolgreichen Büchern zum sehr vitalen Thema Sexualität bereits ein eingespieltes Team. Auch Sterben ist für die Verfasserinnen eindeutig ein Teil des Lebens (nicht des Jenseits), und zwar ein besonders wichtiger. Und weltlicher. Religiöse Vorstellungen über die Nachzeit kommen zwar vor ("Manche glauben, dass Gott oder Allah sie eines Tages wieder zum Leben erwecken wird"), aber die Darstellung läuft - anders als die christlich-erbauliche Ars moriendi - nicht teleologisch auf sie zu. Man geht wohl nicht fehl, wenn man die Herangehensweise rational aufgeklärt nennt.
Trauer ("wie die Liebe: ein großes Gefühl") und ihre Bewältigung spielen in dem ergreifend schön gestalteten Buch eine zentrale Rolle. An dieser Stelle kommen auch religiös inspirierte Riten ins Spiel; da dürfen neben der abendländischen Tradition mit Totenwaschung, Trauerrede und Leichenschmaus der mexikanische Dia de los Muertos oder die Aasgeierbestattung im Himalaja nicht fehlen. Genauso wichtig aber ist den Verfasserinnen der detailgenaue Blick auf verschiedene Todesarten (Verbluten, Ertrinken, Ersticken, Verbrennen, Schlaganfall) und den toten Körper an sich (Totenflecken, Totenstarre, kalte Haut, Aufbahrung). Selbst die Verwesung samt süßlich-fauligem Geruch kommt zur Sprache, ebenso die saugfähige Matratze im Sarg ("der tote Körper verliert Flüssigkeit"). Kinder mit ihrer ungestümen Neugierde dürften sich für solche nur auf den ersten Blick makabren Details brennend interessieren. Erklärt werden sie gleichermaßen in Text und Bild, wobei den Illustrationen Kuhls bei aller Realitätstreue immer auch ein tröstlicher, zugewandter Witz eignet.
Überhaupt sind die oft leicht komischen, manchmal launig kommentierten, aber stets würdevollen Illustrationen Kuhls zum guten Teil für die lichte Stimmung im Buch verantwortlich. Hinzu kommen einige Witzeseiten, die ebenfalls Entspannung von der bedrückenden Thematik bieten. Da spricht dann etwa ein Fremder auf dem Friedhof die Trauergäste an: "Wer ist denn der Tote?", und bekommt zur Antwort: "Ich glaube, der im Sarg." Zu lernen gibt es sicher für alle Alter etwas, beispielsweise, dass die ganze Würmer-Motivik auf einem Missverständnis beruht: "Kein einziger Wurm erreicht den Sarg und knabbert unter der Erde am Körper. Würmer leben nämlich nur in den oberen Schichten des Bodens", außerdem seien sie "strikte Vegetarier und Erdfresser". Und wer wusste schon, dass es mit Turritopsis dohrnii eine biologisch unsterbliche Qualle gibt, die ihre Zellen immer wieder erneuern kann? Welch ein Problem allgemeine Unsterblichkeit aber darstellte, erfährt man ebenfalls: Dann "gäbe es wahrscheinlich die Menschen schon lange nicht mehr".
Auch wenn jeder für sich allein stirbt, gibt es natürlich Profis im Umgang mit den Toten. Auch sie kommen hier umfangreich zu Wort: ein Krankenpfleger, Bestatterinnen, ein Palliativmediziner, eine Pfarrerin, ein Friedhofsgärtner und eine Trauerbegleiterin erzählen in Interviews kindgerecht von ihren Berufen und persönlichen Erfahrungen. So erfährt man, dass Tote massiert werden, um die Totenstarre zu lösen, oder dass man theoretisch auch nackt beerdigt werden dürfte, wohingegen es in Deutschland verboten ist, die Urne mit der Asche nach Hause zu nehmen.
Das Wichtigste ist wohl, anhand all der Geschichten und Details zu bemerken, wie liebevoll sich die Menschen ihrer Toten annehmen. Und dass Sterben auch jenseits allen Glaubens nicht einfach Verschwinden bedeutet: Einerseits ist da der Körper, der weiter zum Kreislauf des Lebens gehört, und andererseits gibt es die ritualisierten und die persönlichen Formen des Erinnerns. So wünscht man dem wackeren Tod am Ende des Buches vielleicht gar keinen Burnout mehr, weil verstanden wurde, dass es ohne ihn, mal abgesehen von Quallen, auch kein Leben gibt.
Katharina von der Gathen, Anke Kuhl: "Radieschen von unten".
Klett Kinderbuch, Leipzig 2023. 160 S., geb., 22,- Euro. Ab 8 J.
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