Wie ist es, als Kind in einem Krieg entscheidende Jahre kurz vor der Pubertät zu erleben? Wie versteht ein Kind solch einen Ausnahmezustand? Und wie sind die Auswirkungen von Belagerung, Verarmung, Gewalt, Bedrohung, den Sorgen der Erwachsenen und besonders der repetitiven Monotonie des Alltags
eines Krieges? Eines Alltags, dessen Gewalt und Toxizität sich erst rückwirkend und Stück für Stück…mehrWie ist es, als Kind in einem Krieg entscheidende Jahre kurz vor der Pubertät zu erleben? Wie versteht ein Kind solch einen Ausnahmezustand? Und wie sind die Auswirkungen von Belagerung, Verarmung, Gewalt, Bedrohung, den Sorgen der Erwachsenen und besonders der repetitiven Monotonie des Alltags eines Krieges? Eines Alltags, dessen Gewalt und Toxizität sich erst rückwirkend und Stück für Stück verarbeiten lässt.
Die Belagerung von Sarajevo, die 1992 begann, die Sila als 10 jähriger bis zur Flucht nach Deutschland selbst erlebte, komprimiert er auf 170 Seiten. Silas Anliegen, seiner Generation der "Vergessenen", die Krieg als Kinder und Jugendliche erleben musste, eine Stimme zu geben, scheint in diesem autofiktionalen Roman stark durch.
Wie schnell Kriege vergessen werden, die einen nicht unmittelbar betreffen, zeigte sich zu Beginn des Krieges zwischen Russland und der Ukraine, wo es irritierenderweise immer wieder hieß, dies sei der erste Krieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. In den 90er Jahren gab es mehrere Kriege im ehemaligen Jugoslawien, gar nicht weit weg von hier und für einige von uns sind diese ein Leben lang prägend. Für andere oder ihre Eltern oder auch Großeltern waren und sind es andere Kriege, die auf sie und ihre Familien wirken. Die in »Radio Sarajevo« beschriebenen Ereignisse sind häufiger oder normaler, als es vielen von uns lieb und bewusst ist.
Im Sound ist »Radio Sarajevo« ein Jugendbuch. Es liest sich eingängig und ist in der naiven Perspektive eines Jungen gehalten, die ergänzt wird von einer einordnenden heutigen Erzählstimme. Der erwachsene Blick auf die Ereignisse verdeutlicht einerseits, wie diese zwei Jahre und die darauf folgenden Belastungen auf die Familie und seine Generation weiterwirken. Andererseits stellt es einem deutschen Lesepublikum eine Einordnung der Geschehnisse bereit.
»Radio Sarajevo« eignet sich daher sehr für junge Menschen, besonders, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen und für all jene, die sich die leiseren Auswirkungen von Kriegen ins Bewusstsein holen wollen, um Empathie für viele Menschen unter uns und auch die eigene Familie zu entwickeln, ohne befürchten zu müssen, von explizit beschriebener Gewalt überrollt zu werden. Subtil ist Gewalt natürlich trotzdem enthalten und in einigen Passagen wird sie auch explizit, besonders in den Geschlechterverhältnissen, alles andere wäre auch am Thema vorbei gewesen. Ich empfehle gerade jungen Menschen, diesen gelungenen autofiktionalen vielleicht auch didaktisch-aufklärerischen Roman zu lesen. Und allen, die sich mehr zumuten wollen, empfehle ich das ebenfalls von der Belagerung handelnde bei Rowohlt 2019 im Deutschen erschienene »Zwei Jahre Nacht« von Damir Ovčina.