KRIMITIPP SEPTEMBER 25 – „Station 22“ von Anne Elvedal „Station 22“ ist definitiv kein gewöhnlicher Psychothriller. Natürlich ist er spannend bis zuletzt, und die verhandelten Erlebnisse sind außergewöhnlich und erschreckend. Besonders an Anne Elvedals Text ist aber, wie er seine Leserinnen und Leser mitnimmt auf eine Reise ins Innere seiner Hauptfigur. Sie heißt Ida Hansen, ist Ende 20 und Krankenschwester auf der Station 22 in einer psychiatrischen Klinik.
Dort landen junge Menschen, die zum ersten Mal in einer solchen Einrichtung sind – egal ob wegen Drogenmissbrauchs oder psychischer Probleme. Eine Patientin ist Fanny. Sie wurde von einem Stalker gequält, doch niemand hat diesen Mann jemals gesehen. Ist Fanny also „verrückt“ und fantasiert all das? Oder existiert der Stalker wirklich und genießt sein grausames Spiel? Es sind genau solche Fragen, die man sich beim Lesen von „Station 22“ immer wieder stellt: Was ist real? Was passiert ausschließlich im Kopf des jeweiligen Menschen?
Aber zurück zur Hauptfigur Ida. Sie ist beliebt bei den Patientinnen, sie vertrauen ihr so manches Geheimnis an. Auch Fanny tut das. Ida, die Freundliche, Kompetente. Ida, die korpulent ist und ein scheinbar ganz normales, etwas langweiliges Leben führt. Nichts davon stimmt. Denn Ida hat Grauenvolles erlebt: Als fünfjähriges Kind war sie verschwunden. 23 Jahre ist das nun her. Nach zwei Jahren tauchte Ida wieder auf, stand auf einer Straße, und in ihrer Hand hielt sie einen rosafarbenen Stoffhasen. Ida hieß damals nicht „Ida“, sondern „Lilly“. Und sie konnte sich an nichts mehr aus diesen zwei Jahren erinnern. Bei ihr griff ein Überlebensmechanismus, der sich einstellt, wenn das Trauma zu groß und übermächtig wird. Das Opfer will nur noch vergessen, auslöschen. Damals kannte jeder diesen Fall „Lilly Leonora“ in Norwegen und darüber hinaus.
Das „Danach“ gestaltete sich für Ida als eine Art fortgesetzter Wahnsinn. Denn ihre Mutter hatte panische Angst, dass Ida erkannt werden und der Entführer erneut zuschlagen könnte. Ida musste also alles verleugnen, was sie ausmachte. Ihren Namen, ihre Art zu gehen, ihre Augenfarbe, ihre Interessen. Diese Maske wurde nach und nach zu ihrer neuen Identität. Was all das in Idas Innerem anrichtete, können wir zuerst nur vermuten. Aber dass etwas anders ist bei ihr, wird schnell klar. Und nach und nach erfahren wir mehr darüber. Denn Fanny, die junge Patientin, wird entlassen – und verschwindet dann spurlos. So spurlos wie damals Ida. War die Existenz des Stalkers doch nicht nur eingebildet? Als Ida Nachforschungen anstellt und etwas in Fannys Zimmer findet, ist sie sich sicher: Der Mann, der sie damals entführt hatte, hat nun auch Fanny geholt.
Nun beginnt der Kampf – ein innerer Kampf. Denn Ida muss und will, um Fanny zu helfen, in die Tiefen ihrer Psyche gelangen, zu all dem, was sie verdrängt hat. Allein ist das unmöglich. Daher bittet sie den jungen Psychologen Thomas Moan um Hilfe. Ihm vertraut sie an, wer sie ist. Wird er, der aussieht „wie ein wiedergeborener Hippie“ – und sich auch genauso benimmt –, ihr helfen können? Gemeinsam versuchen sie, diese Reise ins Innere anzutreten. Und Thomas ist, so scheint es, der Richtige. Denn er sieht Möglichkeiten, wo andere längst aufgegeben haben. Doch wie immer wieder in „Station 22“ beschleicht uns ein seltsames Gefühl. Ist Thomas wirklich gut für Ida? Oder haben wir uns alle in ihm getäuscht? Und mit jedem Schritt, mit dem Ida weiter in ihre innere Dunkelheit vordringt, wird ein schrecklicher Verdacht immer stärker ...
Anne Elvedal hat in „Station 22“ mit Ida eine faszinierende Figur geschaffen, die den Plot des Psychothrillers bestens trägt. Allein das, was wir über Ida erfahren, ist erschütternd (mehr dazu in unserem Porträt der Hauptfigur). Und dann gibt es ja noch die hochspannenden Fragen zu lösen, wer der Täter ist, wo Fanny und eine weitere verschwundene Patientin versteckt sind – ja, ob sie überhaupt noch leben. „Station 22“ ist eine Empfehlung für alle, die intelligente Thriller und psychologisch versierte Duelle lieben. Denn von ihnen hat dieser Thriller einige zu bieten. < Alles zum
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