Wondratschek kann vieles sein, immer aber ist er ein Romantiker. Er hat die Liebe durchmessen in all ihren Formen, beschrieben in all ihrer Widersprüchlichkeit, bloßgestellt in all ihrer Lächerlichkeit, verherrlicht in all ihrer Größe. Dieser Band versammelt die Liebesgedichte und Gedichte von Wolf Wondratschek, die er abseits seiner Gedichtzyklen geschrieben hat. Liebesgedichte aus allen Lebensphasen sowie neue Gedichte.
Frisch, altersweise: Wolf Wondratscheks Liebeslyrik
Was vor vierzig Jahren rebellisch begann, zählt längst zum lyrischen Kanon. Marcel Reich-Ranicki vermutete mit gutem Grund schon in den siebziger Jahren, dass einige Gedichte dieses Wolf Wondratschek der Nachwelt erhalten bleiben könnten. An diesem Eindruck hat sich nichts geändert.
Wondratscheks neuer Band mit dem Titel "Lied von der Liebe" durchmisst die ganze Spannbreite der amourösen Dichtung. Er enthält Liebeslyrik in jeder Form und Farbe, von oben und von unten, in der Jugend und im Alter, im Zoo ebenso wie in der Wiener Straßenbahn. Sogar die Vaterliebe kommt vor. Gleich acht Gedichte handeln über Raoulito, den Sohn des Autors. Sie erzählen vom schlafenden, fliegenden und spielenden Kind und vom Rat das Vaters an den Sohn, eine Art Fengshui in Versen: "In jedem Raum / gibt es eine Ecke / die interessanter ist / als die übrigen drei - / und der setze dich / gegenüber."
Der Raoulito-Zyklus gehört zu den bislang unbekannten Gedichten Wondratscheks und zugleich zu den Texten, die am meisten überraschen. Sie verleihen den eingespielten Wondratschek-Klischees eine neue Pointe: Aus dem einsamen Männerhelden wird ein treusorgender Vater. Eine andere Textgruppe - man könnte sie lyrische Geschichten nennen - verblüfft aus anderen Gründen: "Eine nackte Prinzessin" etwa setzt dort an, wo Märchen üblicherweise aufhören, nämlich bei der Heirat von Prinz und Prinzessin. "Was geschah sonst noch?", fragt Wondratscheks Sprecher und entlarvt die fürstliche Ehe als freudloses Alltagsgeschäft, das sich die herrische Prinzessin durch ihr sadistisches Spiel mit einem Zwerg zu versüßen sucht. Der kleine Spielgefährte stirbt, ohne dass sein Tod die Prinzessin berührt - eine Märchen-Parodie und zugleich eine Allegorie auf die gefühllose Femme fatale.
Derartig bittere Texte sind selten in diesem Band. Zu den begeisterten und begeisternden Texten zählen demgegenüber die Alterspoeme: Mit ihrer lakonischen Intensität feiern sie das lebenslange Begehren. Sie finden sich deshalb, erstaunlich für Texte über Altersliebe, in dem Zyklus "Gedichte für die linke Hand", und zwar gleich neben amüsanten derb-erotischen Notizen wie dieser: "Willst du, daß die Liebe glückt, / nimm ein Mädchen, das sich bückt."
Hier spricht der Wondratschek, den man aus seinen Zyklen "Auf dem Weg zu Salomé" (1986), "Mein Tod. Requiem in memoriam Jane S." (1990, vertont durch Wolfgang Rihm) und den "Wiener Gedichten" (1996/98) kennt, und tatsächlich entstammt ein erheblicher Teil der Gedichte aus dem neuen Band diesen Zyklen. Das berühmte "Lied von der Liebe" ist dem Buch wie ein Motto vorangestellt: "Als Alfred Jarry merkte, daß seine Mutter eine Jungfrau war, bestieg er sein Fahrrad", für das Wondratschek im Jahr 1968 den Leonce-und-Lena-Preis erhielt, und das so großartige wie nüchterne "Hölderlin und die Huren" sind ebenfalls abgedruckt.
Unbekannte oder wenig bekannte Gedichte aus verschiedenen Werkphasen stehen neben bekannten. Das Ergebnis ist zwar gut lesbar, weil die Texte in gewisser Weise für sich sprechen, gibt dem mit Wondratschek nicht vertrauten Publikum aber keinerlei Orientierungshilfe. Herkunftsverweise fehlen. Was neu, was alt ist, welche Bedeutung es im Blick auf Wondratschek und die Zeitläufte hat - all das erfährt der Leser nicht. Der Verlag verkauft Wondratschek unter Wert: Er verramscht Liebeslyrik in liebloser Form.
Dieser Umstand ist deshalb bedauerlich, weil eine Wondratschek-Sammlung unter dem Thema Liebe viel Charme gerade für jene Leser haben könnte, die sich nicht durch Wondratscheks gesammelte Gedichte arbeiten wollen. Denn seine Texte verraten eine zeitlose Weisheit in Liebesdingen: "Das mit der Liebe sind alles Lügen, / auch wenn man nie aufhört, / darüber verrückt zu werden."
SANDRA RICHTER
Wolf Wondratschek: "Lied von der Liebe". Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2008. 120 S., br., 8,90 [Euro].
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