»Ein Buch von Frank Schulz ist immer ein Ereignis. Kaum angekündigt, beginne ich mich schon zu freuen!« Roger Willemsen
Was passiert, wenn einer wie Onno Viets zum ersten Mal in seinem Leben eine richtig gute Idee hat? Onno, Mitte 50, Hartz IV-Empfänger, Noppensockenträger und ungeschlagener König einer Hamburg-Eppendorfschen Pingpong-Runde, bekennender Nicht-Schwitzer, leicht phobisch, hat das Finanzamt im Nacken, den Geburtstag seiner Frau Edda vor Augen und eine Eingebung aus dem Fernsehen: Er wird Privatdetektiv!
Live-Mitschnitt aus dem Uebel & Gefährlich, Hamburg
Was passiert, wenn einer wie Onno Viets zum ersten Mal in seinem Leben eine richtig gute Idee hat? Onno, Mitte 50, Hartz IV-Empfänger, Noppensockenträger und ungeschlagener König einer Hamburg-Eppendorfschen Pingpong-Runde, bekennender Nicht-Schwitzer, leicht phobisch, hat das Finanzamt im Nacken, den Geburtstag seiner Frau Edda vor Augen und eine Eingebung aus dem Fernsehen: Er wird Privatdetektiv!
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| 1 | Onno Viets und der Irre vom Kiez/Track 1 | 00:05:54 | |
| 2 | Onno Viets und der Irre vom Kiez/Track 2 | 00:18:10 | |
| 3 | Onno Viets und der Irre vom Kiez/Track 3 | 00:08:10 | |
| 4 | Onno Viets und der Irre vom Kiez/Track 4 | 00:09:25 | |
| 5 | Onno Viets und der Irre vom Kiez/Track 5 | 00:14:03 | |
| 6 | Onno Viets und der Irre vom Kiez/Track 6 | 00:12:12 | |
| 7 | Onno Viets und der Irre vom Kiez/Track 7 | 00:15:32 | |
Frank Schulz erhält den Kranichsteiner Literaturpreis
Die DDR ist noch lange nicht Vergangenheit. Die Erinnerungen an sie reichen bis in die Gegenwart, in den Alltag hinein, beeinflussen Denken und Handeln ihrer ehemaligen Bürger. Aufgewachsen in einem Land, das es heute nicht mehr gibt, verarbeiten viele deutsche Nachwuchsschriftsteller ihre Kindheitserinnerungen in Büchern, in denen die ostdeutsche Diktatur als schwierige Heimat mit mehr oder weniger kritischem Unterton, aber nie ohne eine gewisse Nostalgie wiederauflebt.
Der Blick auf die DDR verbindet auch die diesjährigen Stipendiaten des Deutschen Literaturfonds, deren Namen bei der Überreichung des Kranichsteiner Literaturpreises an Frank Schulz in Darmstadt bekanntgegeben wurden. Inka Parei, ausgezeichnet mit dem New-York-Stipendium, erzählt in ihrem Roman "Die Kältezentrale" vom Versuch eines geschiedenen Ehepaars, eine schicksalhafte Entscheidung zu rechtfertigen. Gregor Sander, der das London-Stipendium erhält, betrachtet in seinem Erzählband "Winterfisch" das Leben im ehemals zur DDR gehörenden Norden Deutschlands.
Auch Schulz' Werke sind mal düstere, mal heitere Heimat-Retrospektive. In seiner "Hagener Trilogie", die zwischen 1991 und 2006 erschien, geht es um den Versuch des Helden Bodo Morten, vor der eigenen Vergangenheit im für Schulz' Heimat Hagen stehenden Dörfchen Beeckdörp zu fliehen - im geographischen wie im Freudschen Sinne. Für sein Gesamtwerk und den jüngst erschienenen Roman "Onno Viets und der Irre vom Kiez" erhielt Schulz nun den mit 20 000 Euro dotierten Kranichsteiner Literaturpreis, den der Literaturfonds seit 1983 vergibt. Edo Reents, Redakteur im Feuilleton dieser Zeitung, beschrieb in seiner Laudatio den "Grundkonflikt zwischen Intellektuellem und Proletarier", den Morten auszutragen habe. Doch eigentlich sei von vornherein klar: Beeckdörp habe das letzte Wort.
Der mit 5000 Euro dotierte Literaturförderpreis ging an Benjamin Maack, der sich am Vormittag beim Wettlesen auch bei der Schüler-Jury des Darmstädter Ludwig-Georgs-Gymnasiums hatte durchsetzen können.
JULIA KERN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Harry Rowohlts erste Reaktion:
"Ich kann über Frank Schulz' neuen Thriller nichts sagen ...
Ich lese ihn wie gebannt und möchte nicht gestört werden ..."
... zwei Wochen später:
"Jetzt kann sich die deutsche Gegenwartsliteratur endgültig warm anziehen!"
"Spitzenbuch!" -- Wolfgang Herrndorf
"Wenn der überaus sprachmächtige Frank Schulz einen Krimi vom Stapel lässt, erwartet man natürlich gleich den Krimi aller Krimis - ein saftstrotzendes Wunderding von einem Buch. Das trifft es exakt." -- Karen Duve
"Ein Buch von Frank Schulz ist immer ein Ereignis. Kaum angekündigt, beginne ich mich schon zu freuen!" -- Roger Willemsen
"Ich kann über Frank Schulz' neuen Thriller nichts sagen ...
Ich lese ihn wie gebannt und möchte nicht gestört werden ..."
... zwei Wochen später:
"Jetzt kann sich die deutsche Gegenwartsliteratur endgültig warm anziehen!"
"Spitzenbuch!" -- Wolfgang Herrndorf
"Wenn der überaus sprachmächtige Frank Schulz einen Krimi vom Stapel lässt, erwartet man natürlich gleich den Krimi aller Krimis - ein saftstrotzendes Wunderding von einem Buch. Das trifft es exakt." -- Karen Duve
"Ein Buch von Frank Schulz ist immer ein Ereignis. Kaum angekündigt, beginne ich mich schon zu freuen!" -- Roger Willemsen
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Jörg Magenau möchte auch nach der Lektüre von "Onno Viets und der Irre vom Kiez" Frank Schulz nicht als Nachfolger von Arno Schmidt bezeichnen, trotz einiger gelungener Wortspiele. Den Anfang des Romans findet er noch originell: der Autor beschreibt einen Videoclip von einem nackten Riesen, der, bestückt mit Metallhörnern und kruden Tätowierungen, auf der Außenalster ein Schiff kapert. Der Privatdetektiv, den Schulz neben ihm ins Rennen schickt, ist ein Quereinsteiger, der sich für seine Ermittlungen an einem Ratgeber aus dem Internet orientiert. Die daraus entwickelte Geschichte findet Magenau dann aber dürftig, und weder durch die Sprachschöpfungen und -spielereien des Autors will der Rezensent sich darüber hinwegtäuschen lassen noch durch die "liebevoll" nachbuchstabierten Dialekte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Kartoffelschälen ist eine unterschätzte Kunst
Apologie des Pikaros: Der brillante Querkopf Frank Schulz hat den lustigsten Roman der Saison geschrieben, der auch noch einer der tiefsinnigsten ist.
Von Oliver Jungen
Judas Ischariot, herbei! Das Finale der Casting-Show "Mankind's All Time Super-Traitor" steht an. Neben Judas ist nur noch Onno Viets im Rennen: maulfauler Überlebenskünstler in Noppensocken, zu allem fähig, zu nichts zu gebrauchen. Verraten wurde einmal der Heiland und einmal der Teufel, letztlich aber dasselbe: die Liebe. Es ist ein so gewaltiger Verrat, der das Herzstück von Frank Schulz' hintergründigem Roman ausmacht, dass er noch lange im Leser nachhallt, woran freilich auch die apokalyptische, in vier Youtube-Clips mit "Kultstatus" festgehaltene Reaktion ihren Anteil hat.
Diese visuelle Offenbarung ruft die Exegeten auf den Plan, heutzutage in einschlägigen Netzforen beheimatet. Diese debattieren nicht nur "die verquere, zufällige Vollkommenheit, mit der die Bilder, obwohl zweifelsohne authentisch, wirken wie inszeniert". Typisch Internetheinis, beziehen sie im gnostisch anmutenden Endkampf Stellung zugunsten des martialischen Hünen, der ihnen als "Rächer der von der menschlichen Dekadenz Korrumpierten" erscheint. Das wiederum unterscheidet sich fundamental von der Meinung der "Old-school-Öffentlichkeit", die hier bloß "die Tat einer psychisch schwer gestörten Milieugröße" zu sehen vermag. Beides aber trifft zu; der Autor stürzt uns in einen Sympathiekonflikt sondergleichen.
Medias in res beginnt nicht nur diese Rezension, sondern auch der neue Roman des brillanten literarischen Querkopfs und Heimatroman-Virtuosen Frank Schulz ("Hagener Trilogie"), der abermals eine Hommage an den trockenen Hanseaten-Humor ist. Statt des annoncierten Krimis - weder gibt es Tote noch Ermittlungen - haben wir freilich eine realsatirische Groteske vor uns, wie spätestens die Bezugnahme auf das "Günther-Jauch-Gymnasium" deutlich macht. Satan persönlich scheint da also am Ufer herangerast zu kommen, nackt, muskelbepackt bis zur Obszönität, ganzkörpertätowiert und mit implantierten Hörnern aus Teflon: Nach einem Sprung in die Alster schwimmt er dem Ausflugsdampfer Saselbek hinterher, von dem aus Touristin Dagmar mit ihrer Digicam die Geschehnisse festhält, das Entern des Schiffs, die Geiselnahme, die Hinrichtung der weißen Schäferhündin.
Dreihundertfünfzig Seiten voller grandioser Um- und Abwege sind nötig, um zu erklären, wie es dazu kam. Schulz ist ein Meister der arabesken Abschweifung. Von einer Abschweifung zur nächsten wächst sein Text heran, und erst am Ende zeigt sich, dass sich alle Schnörkel kunstvoll zu einem Ornament fügen. In diesem ist der eigentliche Sündenfall der Menschheit eingefangen: der Verlust des Vertrauens. Alle Gesten und Worte sind seither doppeldeutig, Kuss und Judaskuss ununterscheidbar: "Die Geräusche der Möwen, die da wimmelten ..., sie waren sehr, sehr unterschiedlich deutbar: höhnisches Kreischen, fröhliches Gelächter. Schmerzliche Klage. Irrsinnige Dankgebete. Kultische Gesänge zur Selbstreinigung durch Sühneopfer."
Onno Viets, der heilige Sünder, ist ein zauseliger Schrat mit Schwitz- und Hühnerkopfphobie. Er kann so gut wie nichts richtig: "Nun ja, ein paar Primzahlen, Kartoffeln schälen u. ä." Kompensiert wird das jedoch durch "Superkräfte": Alles und jeden versteht er auszusitzen ("Raimund hatte hinsichtlich Onnos Berufsmisere vorgeschlagen, er möge doch im Akkord Eier ausbrüten"). Perfekte Pingpong-Reflexe lassen ihn, wenngleich absolut unelegant, stets als Sieger aus den Tischtennisrunden mit seinen drei besten Freunden hervorgehen, darunter der Erzähler und Rechtsanwalt Christoph Dannewitz. Die dritte Superkraft ist das "Charisma für Arme": Sofort offenbaren ihm Mitmenschen ihr Innerstes. Hartz-IV-Onno und seine Frau Edda sind zudem intime Kenner der angesagten Casting-Show "V-Girls" ("Vote Germany's International Red Light Stars"), wo soeben Fiona Popo den Einzug ins Finale geschafft hat.
Als eine kleine Steuerschuld dräut, bringt ein Fernsehbericht den Protagonisten auf die Idee, was er mit seinen Fähigkeiten anfangen könnte: Detektiv werden. Freund und Apologet Dannewitz vermittelt einen Klienten: Der Popstar Harald Herbert Queckenborn (herrlich: Harald Herbert!), hinter dem sich recht kenntlich Pop-Titan Dieter Günter Bohlen verbirgt (endlich zündelt mal wieder ein Autor!), verdächtigt die mit ihm liierte Fiona Popo des Betrugs. Kompromittierende Fotos aber sind so leicht nicht zu schießen, obwohl Onno Fiona bald in der Umarmung des berüchtigten Sankt-Pauli-Schlägers Tetropov entdeckt: Gorilla-Physiognomie, Totschläger, schwer traumatisiert.
Bis nach Mallorca verfolgt unser Möchtegerndetektiv die Zielpersonen. Plötzlich aber nimmt der Roman eine unvorhergesehene Wendung: Ein neuer, lebenskluger Onno Viets wird geboren. "Onno Daddy? Onno Opi." Mit wem er sich da eingelassen hat, steht außer Zweifel, rappt der Berserker doch: "Ich / bin des Satans / eingebor'ner Sohn!", doch just hier folgt als Refrain das Leitmotiv des ganzen Buches: "Liiiebööö - der Same des Hasses". Wer nun wem die Seele verkauft, soll natürlich nicht verraten werden.
Das eigentlich Furiose an diesem Roman ist ohnehin sein Stil. Das schulztypische Zusammenziehen von Hoch- und Spaßkultur nämlich findet zu einem guten Teil auf der sprachlichen Ebene statt. In das zugrundeliegende Hochsprachenidiom ("Nach Jahrzehnten beruflicher Kalamitäten konnte man das Notlügen bzw. Schutzbehaupten fast als Onno Viets' Superkraft No. 5 bezeichnen") sind unzählige, gern lautmalerisch wiedergegebene Kiez-Intarsien eingelassen: "Njorp. Öff, Öff", "Hammer, Diggär", "nech?" Pointiert karikiert der Autor zudem die unterschiedlichsten Jargons: die dümmliche Fernsehmaus, der Prolet, der Rechtsanwalt, sie alle reden mit eigener Zunge. Harte Fügungen, das ständige Durchbrechen der Stilebenen, gewitzte Dialogantworten ("Für Eventualitäten hast du ja noch das Handbuch." "Handtuch, Sir, jawoll, Sir. Was für ein Handtuch, Sir?"), kurze Sätze und krachende Kalauer ("Ich besitze eine Golden Delicious. Ungestempelt."), das ergibt zusammengenommen eine wunderbar lakonische Erzählhaltung. Dieser Text ist schon als Text eine Art schweinsnasiges Känguruhkamel mit Elefantenohren, und das ist zum Umfallen lustig.
Woran man den genialen Heimatdichter erkennt: Die ausgedachtesten Hamburg-Referenzen (der gesamte Stadtteil "Aalkoog") wirken völlig überzeugend. Dagegen sind die unglaubwürdigsten Dinge der Realität entnommen: die an eine Munch- oder "Scream"-Statue erinnernde Plastik Max Bills oder die Ungeheuerlichkeit, dem Gegner ein Auge aus der Höhle zu saugen und abzubeißen. Letzteres hat ein englischer Hooligan tatsächlich getan, was schon Franzobel faszinierte, der einem hier überhaupt ein wenig in den Sinn kommt. Der eingangs zitierte Exeget lag so falsch nicht: Die Vollkommenheit dieses literarischen Glanzstücks hat viel damit zu tun, dass Schulz Authentisches wirken lässt wie inszeniert. Hinter der mitreißenden Situationskomik entdecken wir daher plötzlich unsere Wirklichkeit wieder, das alte Trauma falscher Freunde.
Frank Schulz: "Onno Viets und der Irre vom Kiez". Roman.
Galiani Verlag, Berlin 2012. 368 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Apologie des Pikaros: Der brillante Querkopf Frank Schulz hat den lustigsten Roman der Saison geschrieben, der auch noch einer der tiefsinnigsten ist.
Von Oliver Jungen
Judas Ischariot, herbei! Das Finale der Casting-Show "Mankind's All Time Super-Traitor" steht an. Neben Judas ist nur noch Onno Viets im Rennen: maulfauler Überlebenskünstler in Noppensocken, zu allem fähig, zu nichts zu gebrauchen. Verraten wurde einmal der Heiland und einmal der Teufel, letztlich aber dasselbe: die Liebe. Es ist ein so gewaltiger Verrat, der das Herzstück von Frank Schulz' hintergründigem Roman ausmacht, dass er noch lange im Leser nachhallt, woran freilich auch die apokalyptische, in vier Youtube-Clips mit "Kultstatus" festgehaltene Reaktion ihren Anteil hat.
Diese visuelle Offenbarung ruft die Exegeten auf den Plan, heutzutage in einschlägigen Netzforen beheimatet. Diese debattieren nicht nur "die verquere, zufällige Vollkommenheit, mit der die Bilder, obwohl zweifelsohne authentisch, wirken wie inszeniert". Typisch Internetheinis, beziehen sie im gnostisch anmutenden Endkampf Stellung zugunsten des martialischen Hünen, der ihnen als "Rächer der von der menschlichen Dekadenz Korrumpierten" erscheint. Das wiederum unterscheidet sich fundamental von der Meinung der "Old-school-Öffentlichkeit", die hier bloß "die Tat einer psychisch schwer gestörten Milieugröße" zu sehen vermag. Beides aber trifft zu; der Autor stürzt uns in einen Sympathiekonflikt sondergleichen.
Medias in res beginnt nicht nur diese Rezension, sondern auch der neue Roman des brillanten literarischen Querkopfs und Heimatroman-Virtuosen Frank Schulz ("Hagener Trilogie"), der abermals eine Hommage an den trockenen Hanseaten-Humor ist. Statt des annoncierten Krimis - weder gibt es Tote noch Ermittlungen - haben wir freilich eine realsatirische Groteske vor uns, wie spätestens die Bezugnahme auf das "Günther-Jauch-Gymnasium" deutlich macht. Satan persönlich scheint da also am Ufer herangerast zu kommen, nackt, muskelbepackt bis zur Obszönität, ganzkörpertätowiert und mit implantierten Hörnern aus Teflon: Nach einem Sprung in die Alster schwimmt er dem Ausflugsdampfer Saselbek hinterher, von dem aus Touristin Dagmar mit ihrer Digicam die Geschehnisse festhält, das Entern des Schiffs, die Geiselnahme, die Hinrichtung der weißen Schäferhündin.
Dreihundertfünfzig Seiten voller grandioser Um- und Abwege sind nötig, um zu erklären, wie es dazu kam. Schulz ist ein Meister der arabesken Abschweifung. Von einer Abschweifung zur nächsten wächst sein Text heran, und erst am Ende zeigt sich, dass sich alle Schnörkel kunstvoll zu einem Ornament fügen. In diesem ist der eigentliche Sündenfall der Menschheit eingefangen: der Verlust des Vertrauens. Alle Gesten und Worte sind seither doppeldeutig, Kuss und Judaskuss ununterscheidbar: "Die Geräusche der Möwen, die da wimmelten ..., sie waren sehr, sehr unterschiedlich deutbar: höhnisches Kreischen, fröhliches Gelächter. Schmerzliche Klage. Irrsinnige Dankgebete. Kultische Gesänge zur Selbstreinigung durch Sühneopfer."
Onno Viets, der heilige Sünder, ist ein zauseliger Schrat mit Schwitz- und Hühnerkopfphobie. Er kann so gut wie nichts richtig: "Nun ja, ein paar Primzahlen, Kartoffeln schälen u. ä." Kompensiert wird das jedoch durch "Superkräfte": Alles und jeden versteht er auszusitzen ("Raimund hatte hinsichtlich Onnos Berufsmisere vorgeschlagen, er möge doch im Akkord Eier ausbrüten"). Perfekte Pingpong-Reflexe lassen ihn, wenngleich absolut unelegant, stets als Sieger aus den Tischtennisrunden mit seinen drei besten Freunden hervorgehen, darunter der Erzähler und Rechtsanwalt Christoph Dannewitz. Die dritte Superkraft ist das "Charisma für Arme": Sofort offenbaren ihm Mitmenschen ihr Innerstes. Hartz-IV-Onno und seine Frau Edda sind zudem intime Kenner der angesagten Casting-Show "V-Girls" ("Vote Germany's International Red Light Stars"), wo soeben Fiona Popo den Einzug ins Finale geschafft hat.
Als eine kleine Steuerschuld dräut, bringt ein Fernsehbericht den Protagonisten auf die Idee, was er mit seinen Fähigkeiten anfangen könnte: Detektiv werden. Freund und Apologet Dannewitz vermittelt einen Klienten: Der Popstar Harald Herbert Queckenborn (herrlich: Harald Herbert!), hinter dem sich recht kenntlich Pop-Titan Dieter Günter Bohlen verbirgt (endlich zündelt mal wieder ein Autor!), verdächtigt die mit ihm liierte Fiona Popo des Betrugs. Kompromittierende Fotos aber sind so leicht nicht zu schießen, obwohl Onno Fiona bald in der Umarmung des berüchtigten Sankt-Pauli-Schlägers Tetropov entdeckt: Gorilla-Physiognomie, Totschläger, schwer traumatisiert.
Bis nach Mallorca verfolgt unser Möchtegerndetektiv die Zielpersonen. Plötzlich aber nimmt der Roman eine unvorhergesehene Wendung: Ein neuer, lebenskluger Onno Viets wird geboren. "Onno Daddy? Onno Opi." Mit wem er sich da eingelassen hat, steht außer Zweifel, rappt der Berserker doch: "Ich / bin des Satans / eingebor'ner Sohn!", doch just hier folgt als Refrain das Leitmotiv des ganzen Buches: "Liiiebööö - der Same des Hasses". Wer nun wem die Seele verkauft, soll natürlich nicht verraten werden.
Das eigentlich Furiose an diesem Roman ist ohnehin sein Stil. Das schulztypische Zusammenziehen von Hoch- und Spaßkultur nämlich findet zu einem guten Teil auf der sprachlichen Ebene statt. In das zugrundeliegende Hochsprachenidiom ("Nach Jahrzehnten beruflicher Kalamitäten konnte man das Notlügen bzw. Schutzbehaupten fast als Onno Viets' Superkraft No. 5 bezeichnen") sind unzählige, gern lautmalerisch wiedergegebene Kiez-Intarsien eingelassen: "Njorp. Öff, Öff", "Hammer, Diggär", "nech?" Pointiert karikiert der Autor zudem die unterschiedlichsten Jargons: die dümmliche Fernsehmaus, der Prolet, der Rechtsanwalt, sie alle reden mit eigener Zunge. Harte Fügungen, das ständige Durchbrechen der Stilebenen, gewitzte Dialogantworten ("Für Eventualitäten hast du ja noch das Handbuch." "Handtuch, Sir, jawoll, Sir. Was für ein Handtuch, Sir?"), kurze Sätze und krachende Kalauer ("Ich besitze eine Golden Delicious. Ungestempelt."), das ergibt zusammengenommen eine wunderbar lakonische Erzählhaltung. Dieser Text ist schon als Text eine Art schweinsnasiges Känguruhkamel mit Elefantenohren, und das ist zum Umfallen lustig.
Woran man den genialen Heimatdichter erkennt: Die ausgedachtesten Hamburg-Referenzen (der gesamte Stadtteil "Aalkoog") wirken völlig überzeugend. Dagegen sind die unglaubwürdigsten Dinge der Realität entnommen: die an eine Munch- oder "Scream"-Statue erinnernde Plastik Max Bills oder die Ungeheuerlichkeit, dem Gegner ein Auge aus der Höhle zu saugen und abzubeißen. Letzteres hat ein englischer Hooligan tatsächlich getan, was schon Franzobel faszinierte, der einem hier überhaupt ein wenig in den Sinn kommt. Der eingangs zitierte Exeget lag so falsch nicht: Die Vollkommenheit dieses literarischen Glanzstücks hat viel damit zu tun, dass Schulz Authentisches wirken lässt wie inszeniert. Hinter der mitreißenden Situationskomik entdecken wir daher plötzlich unsere Wirklichkeit wieder, das alte Trauma falscher Freunde.
Frank Schulz: "Onno Viets und der Irre vom Kiez". Roman.
Galiani Verlag, Berlin 2012. 368 S., geb., 19,99 [Euro].
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