Der prachtvollste und vollständigste Atlas der Frühen Neuzeit - Der Atlas Maior des niederländischen Verlegers Joan Blaeu ist einer der schönsten Atlanten des Barock. Das vom TASCHEN Verlag komplett faksimilierte Exemplar in lateinischer Sprache entstammt der Österreichischen Nationalbibliothek und hat mehrere Ausklapptafeln. Das handkolorierte Exemplar gehörte einst Prinz Eugen von Savoyen und ist in dieser besonderen Provenienz als einer der wenigen Ausgaben Gold-erhöht. Zitate und Reiseimpressionen großer Persönlichkeiten wie z.B. Benjamin Franklin ergänzen die historische und politische Bedeutung einzelner Karten.
Der Atlas Maior Von Michael Jeismann
Ausmalende Phantasie und abgezirkelte Wissenschaft: im Zeitalter des Barock waren das keine Gegensätze, sondern zwei Schwestern, die Politik und Handel beflügelten. Eines der schönsten Beispiele für dieses Zusammenspiel ist der "Atlas Maior", den der Niederländer Joan Blaeu 1665 herausbrachte und der nun in einem prächtigen Band im Taschen Verlag sorgfältig neu verlegt worden ist. Sechshundert Karten, eine Fülle von Stadtplänen, Abbildungen von Meßgeräten und architektonischen Meisterwerken, verziert mit Allegorien und in Farben schwelgend machten den Besitzer des "Atlas Maior" zu einem Menschen der die Welt in der Hand hielt. Ursprünglich erschien er in sechzehn Bänden. In der vorliegenden Ausgabe sind die Karten mit Erläuterungen in einem einzigen, gewaltigen Band versammelt - und so glaubt man gern, nach dem Gewicht zu urteilen, tatsächlich die Welt in Händen zu halten. Ein Trugschluß natürlich, denn Australien fehlt im "Atlas Maior" aus dem einfachen Grund, weil es damals noch nicht entdeckt war. Im Jahr 1993 zählte man in Europas Bibliotheken nur noch etwa dreihundert Exemplare des Atlas. Umso verdienstvoller ist diese Ausgabe, die selbst eine Kostbarkeit geworden ist.
In seinem Vorwort zählt der Geograph, Kartograph und Unternehmer Joan Blaeu auf, wofür der Atlas als Abbild der erfahrenen Welt dienen kann. Die Geschichte, so sagt er, sei das Auge der politischen Einsicht, die Geographie jedoch das Auge und Licht der Geschichte. Es sei ganz nutzlos, heldenhaft erregt über den Kampf der Griechen bei den Thermopylen zu lesen, wenn man die Geographie der Region nicht beherrsche. Desgleichen bliebe es bei einem vagen Luftgebilde, sich den Sieg über Attila vorzustellen, ohne zu wissen, wo die Katalaunischen Felder liegen. Denn, so sagt Blaeu, "sowohl große als auch kleine Ereignisse forden ihre Orte, an denen sie sich vollziehen können". Der Ort ist also der erste Zeuge eines historischen Ereignisses.
Dieses Wissen war bei den großen Kolonisatoren, bei den Spaniern, Portugiesen, den Holländern, Engländern und Franzosen weit ausgeprägter als in Deutschland, wo bis heute im Gegensatz zu Frankreich Geschichts- und Geographieunterricht nicht nur getrennt, sondern in keiner Weise aufeinander bezogen sind. Hierdurch bekommen, und darauf weist Joan Blaeu hin, historische Ereignisse leicht etwas Nebulöses. Sehen zu können, wo und unter welchen Gegebenheiten etwas geschehen ist, ist die Voraussetzung eines Wissens, dessen Fundamente Empirie und Überprüfbarkeit sind. Insofern ist der "Atlas Maior" das Zentraldokument einer Aufklärung avant la lettre: Die Ordnung der Dinge auch kartographisch zu erfassen und zu verstehen, bedeutet, eine durch Politik, Religion, Überlieferung und Aberglauben gegebene Ordnung überprüfen zu können.
Das Ende der Welt etwa mag eintreten, die Reiter der Apokalypse mögen wohl reiten, aber der Untergang im Bösen oder im Guten, er ist genau in dem Moment nicht mehr geographisch lokalisierbar, da alles Meßbare vermessen und verzeichnet ist. Wenn also der Metaphysik keine Geographie mehr entspricht, dann wird das Metaphysische ortlos, schimärenhaft genau in dem Sinn, in dem der große Kartograph von den historischen Ereignissen sprach, die nicht zu verstehen sind, wenn ihr Ort nicht gewußt ist.
Joan Blaeu nennt noch eine weitere Nützlichkeit der weltumspannenden Kartographie: Diejenigen, die Kriege führen, müßten schließlich gut wissen, wohin sie die Heere zu führen hätten. Für derlei Zwecke wird der Blick heute aus dem All bis in den kleinsten Winkel gelenkt - doch die Politik hat mit der Höhe des Blicks nicht mitgehalten. Schließlich aber vergißt der große Kartograph den Leser aus Lust und Leidenschaft nicht, der sich einfach mit dem Finger auf der Karte die Welt erschließt.
"Atlas Maior of 1665" von Joan Blaeu. Taschen Verlag, Köln 2005. 593 Folioseiten, zahlreiche Karten mit einer Auswahl der Originaltexte von Joan Blaeu sowie Erläuterungen. Gebunden, 150 Euro. ISBN 3 8228 3125 5.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als wunderbares Beispiel für das Zusammenspiel von "ausmalender Fantasie und abgezirkelter Wissenschaft" feiert Rezensent Michael Jeismann diese "prächtige" Neuauflage von Joan Blaeus Atlas aus dem Jahr 1665. Ursprünglich habe er einmal aus sechzehn Bänden bestanden. Der edierende Taschen Verlag nun habe alles in einem einzigen Band versammelt, dessen Gewicht den Rezensenten glauben lässt, tatsächlich die "ganze Welt" in den Händen zu halten. Lediglich Australien sei nicht enthalten, weil es damals noch nicht entdeckt war. Es sind insgesamt über sechshundert Pläne, eine Fülle von Stadtplänen, Abbildungen von Messgeräten und architektonischen Meisterwerken der Zeit, die den Rezensenten begeistern. Beglückt schwelgt er außerdem in Farben und allegorischen Darstellungen. Auch das Vorwort des "großen Kartografen" Blaeu öffnet dem Rezensenten für vieles die Augen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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