Schon mit ihrem Debütalbum "Up All Night" warfen sie sämtliche Indierock-Klischees über Bord und gingen an die Grenzen des Möglichen. Das Q Magazine bezeichnete das darauf folgende Album "Razorlight" als "das beste Gitarrenalbum seit 'Definitely Maybe´ von Oasis". Songs wie "In The Morning" und "America" trafen den Puls der Zeit.
Die erste Single des neuen Albums "Wire To Wire" ist eine gespenstische Klavierballade und wunderschöne Radio-Single. Eleganter als im Fall von "60 Thompson" könnte Schmerz nicht vertont werden. Doch dann gibt es die bissigen Harmonien von "Burberry Blue Eyes" oder "North London Trash", in denen ihr kollektiver Hang zu astreinem Pop aufflackert.
Sicherlich laufen alle Bands beim dritten oder vierten Album Gefahr, sich zu wiederholen - "Slipway Fires" von Razorlight ist jedoch der eindeutige Gegenbeweis, denn sie zeigen, dass man nicht in diese Falle tappen muss.
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Die erste Single des neuen Albums "Wire To Wire" ist eine gespenstische Klavierballade und wunderschöne Radio-Single. Eleganter als im Fall von "60 Thompson" könnte Schmerz nicht vertont werden. Doch dann gibt es die bissigen Harmonien von "Burberry Blue Eyes" oder "North London Trash", in denen ihr kollektiver Hang zu astreinem Pop aufflackert.
Sicherlich laufen alle Bands beim dritten oder vierten Album Gefahr, sich zu wiederholen - "Slipway Fires" von Razorlight ist jedoch der eindeutige Gegenbeweis, denn sie zeigen, dass man nicht in diese Falle tappen muss.
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CD | |||
1 | Wire To Wire | 00:03:01 | |
2 | Hostage Of Love | 00:03:44 | |
3 | You And The Rest | 00:03:25 | |
4 | Tabloid Lover | 00:02:56 | |
5 | North London Trash | 00:03:25 | |
6 | 60 Thompson | 00:02:34 | |
7 | Stinger | 00:04:14 | |
8 | Burberry Blue Eyes | 00:03:31 | |
9 | Blood For Wild Blood | 00:03:09 | |
10 | Monster Boots | 00:04:21 | |
11 | The House | 00:03:55 | |
12 | Weblink |
Catull würde es heute machen Razorlight: Nicht hundert, tausend Küsse ergeben ein Rock-Liebesalbum.
Brett Anderson, einst Frontmann der großartigen Band "Suede", die im Jahre 2003 ihre Kreativität einstellte, dann Frontmann der nicht mehr allzu großartigen Band "The Tears", die über ein einziges Album nicht hinauskam, und schließlich depressive Klagelieder produzierender Frontmann seiner selbst - Brett Anderson hat kürzlich einen weiteren Abgesang auf den Britpop angestimmt. Diesem Kosmos sei er irrtümlich zugerechnet worden: "Wir waren nie auf dieser Party. Und Britpop war wie eine große Party: Leute, die sich gegenseitig auf den Rücken klopften, bierselig und chauvinistisch wurden." Leicht zu durchschauen, dass hier jemand gekränkt ist, weil die Party auch ohne "Suede" (die fraglos dazugehörten) einfach weiterging. Die Meistererzählung will es denn auch, dass die Britpop-Bewegung Ende der Neunziger auslief, als deren Heroen - inklusive Anderson - im Drogen-Nirwana landeten.
Doch wie sehr man auch auf Markenschutz plädieren mag, eine Band wie "The Libertines", die uns zu Anfang des neuen Jahrhunderts und von Beginn an unter Drogen mitreißend energetischen Poprock schenkte, trat mit jugendlichem Elan das Erbe an, bis es auch sie zerstob. Und der große Chauvinist, das Publikum, berauscht sich immer weiter, jetzt an den direkten Nachfolgern der "Libertines": an Pete Dohertys dauerkaputten "Babyshambles", an Carl Barâts und Gary Powells inzwischen auch schon wieder auseinandergefallenen "Dirty Pretty Things" und an "Razorlight", gegründet 2002 von Kurzzeit-"Libertines"-Bassist und Mit-offenem-Hemd-Posierer Johnny Borrell.
Mit ihrem exhaustiven Debütalbum "Up All Night" (2004) legte diese Band einen Senkrechtstart an die Spitze der Charts hin, neigte sich dann aber mit dem zweiten Album "Razorlight" (2006) stärker ins Melodiöse, auch wenn man für alle Post-Pubertierenden immer noch ein paar Schrammelriffs parat hatte. Quasi pausenlos spielten die Radiostationen den Nummer-eins-Hit "America". Mehr als drei Millionen verkaufte Alben in Zeiten, wo man sonst nur vom Zusammenbruch der Musikbranche liest: keine kleine Leistung.
Jetzt erscheint "Slipway Fires", das dritte Werk des Quartetts, und das ist, ohne die Independentrock-Wurzeln ganz zu verleugnen, noch stärker ins Elegische verschoben (beziehungsweise verschroben). Ein unaufdringliches Piano eröffnet die Platte, bevor Johnny Borells wohlklingende Stimme hinzukommt, bald aber ins Kopfregister wechselt und an Dringlichkeit zunimmt, bevor schließlich die Instrumente einsetzen. "Wire to Wire" wurde vorab ausgekoppelt und von dem großen Regisseur Stephen Frears ("High Fidelity", "Die Queen") mit einem missglückten Musikvideo bedacht, in dem die vier schmächtigen Jungs reihenweise Streichhölzer anzünden, sonst nichts, und dabei herumstehen wie schlechte Komparsen. Dabei handelt das Lied von Hochspannung. Genau durch die Mitte der sechs Strophen verläuft die hauchdünne Grenze zwischen zwei Personen; aber die Musik überspringt sie, jenem grellen Lichtbogen gleich, der zwischen zwei Elektroden entsteht, die sich so nahe sind wie die Zeigefinger Adams und Gottes in der Sixtinischen Kapelle: "Du hast jemanden gesucht, der dich liebt, wieder und wieder." Und: "Ich habe jemanden gesucht, der mich liebt, wieder und wieder." Ein Liebeslied also, in aller Ungeschütztheit und Unbescheidenheit. Und man findet auf diesem Album nichts als Liebeslieder, übermütige, erhabene, traurige, irrsinnige.
Echte Kerls kann das stören. Rasierer mit Licht, brummen sie verächtlich. Jüngst hat der Borrell an Selbstgefälligkeit nicht nachstehende Hamish MacBain, ein einflussreicher Musikkritiker des "New Musical Express" (NME), einen hämischen Verriss lanciert, der bereits fleißig abgeschrieben wird. MacBains Urteil: Höchststrafe. Vergehen: Mainstream-Melodien und schwachsinnige Texte. Aber muss denn schlecht sein, was gefällt? Hymnisch ist diese Musik tatsächlich oft, melodiös und eingängig, chorisch, pathetisch sogar - und bricht immer wieder um in astreinen, treibenden Rock 'n' Roll. Die nervösen Stücke "You and the Rest", "Tabloid Lover" oder "Burberry Blue Eyes" zerren noch den letzten Independent-Rentner auf die Tanzfläche. "Stinger" ist ein Blues, in dessen auseinanderbrechendem Refrain ein geradezu epischer Liebesschmerz aufgehoben ist.
Die ewig gleiche Keule der "Almoust famous"-Wichtigtuer, der ruinöse U2-Verdacht, wird, man glaubt es kaum, bei MacBain um eine hermeneutische Rüge erweitert: Seit wann müssen Songtexte konsistent sein? Es stimmt schon, bei Razorlight zerfällt die Semantik auf Schritt und Tritt. Länger als drei Zeilen halten die Bezüglichkeiten selten. Aber das reicht, um authentisch Stimmungen abzubilden, zumal wir meistens das Alter ego Borrells hören, dem man selbst das halb nostalgische, halb eifersüchtige "let me in" abnimmt, eine letzte Apostrophe an die Geliebte, um welche das Stück "Monster Boots" kreist, aufgescheucht von Andy Burrows' Tempo-Drums. Die abschließende Klavierballade "The House" ist eine Allegorie auf den Tod des Vaters.
Was würde ein Avantgarde-Türwächter wohl zu einem solchen Text sagen: "Gib mir tausend Küsse, dann noch hundert, dann noch weitere tausend, dann nochmals hundert und wieder tausend und wieder hundert. Dann, wenn wir viele tausend beisammen haben, bringen wir sie durcheinander, damit wir nichts mehr wissen und kein Neider uns Böses kann, wenn er weiß, dass es so und so viele Küsse waren." Dass es nur der für Poesie halten kann, der noch nie ein Buch gelesen hat? So unähnlich aber ist der Überschwang in Catulls Liebesfeier dem Aufruhr des Herzens bei Razorlight nicht ("She says love is not a hostile condition"), dafür muss man den Hendekasyllabus, die elfsilbige Verszeile, nicht beherrschen. Im zweiten Stück spricht gar die Himmelsmacht selbst und nimmt Geiseln. Amor vincit omnia, das wussten die Ritter schon immer.
Natürlich richten sich die Liebeserklärungen hier zugleich immer auch an die Welthauptstadt des gelebten Musikexistentialismus: "You can't kill / North London Trash". Die Britpop-Party jedenfalls ist noch lange nicht vorbei, wie sehr Brett Anderson auch den Mond anheult. In einem Punkt hat MacBain allerdings recht: Die Perlenkette, die der Schönling Johnny Borrell auf dem Cover trägt, ist schon reichlich fies.
OLIVER JUNGEN
Razorlight, Slipway Fires. Vertigo/Mercury 3865054 (Universal)
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