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  • EAN: 0077774975919
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2024

Der Mann hat einen Vogel

Dass Richard Wagner seinen Spaß gehabt hätte an der Kinderoper der Bayreuther Festspiele, davon sollten wir ausgehen. Er, der es bei Tisch liebte, Faxen zu machen für seine eigenen Kinder (gerne in sächsischer Mundart, was Gattin Cosima pikiert erstarren ließ), über den wir außerdem in der aktuellen Sonderausstellung (Titel: "Mensch Wagner") im Wagner-Museum von Haus Wahnfried lernen, dass er eine Vorstellung von Erziehung hatte, die man später wohl "antiautoritär" genannte hätte, dieser Richard Wagner hätte bestimmt nichts einzuwenden gehabt gegen die Vereinfachung seiner Werke für ein kindliches Publikum. Das gehört ja überhaupt zu den Aha-Erlebnissen der seit 2009 jährlich neu produzierten Kinderoper-Fassungen: Dass Wagners Stücke im Kern gar nicht so kompliziert sind, schlägt man einmal beherzte Breschen in den Wald.

Alles ganz einfach also: "Der Mann ist Kapitän wie ich, und er hat einen Vogel", so in der Kinderfassung Daland gegenüber seiner Tochter Senta, als es darum geht, wen er da gerade auf der stürmischen Heimreise aufgesammelt hat: den Holländer nämlich. Das mit dem Vogel hat seine doppelte Bedeutung in Kerem Hillels Inszenierung: Michael Kupfer-Radecky als Holländer betätigt sich nicht nur als Sänger, sondern auch als Puppenspieler und birgt im weiten roten Mantel einen Plüsch-Papagei, der sich immer wieder vorwitzig ins Geschehen einschaltet.

Vor zwei Jahren sprang Kupfer-Radecky sensationell im dritten Akt der Premieren-"Walküre" ein, als sich der eigentliche Wotan, Tomasz Konieczny, bei einem Bühnenunfall verletzte; dieses Jahr singt er den Gunther in der "Götterdämmerung": Es gehört zum Anspruch der Kinderoper in Bayreuth, bei der Sängerqualität nicht zu sparen. Die Übergänge zwischen Festspielhaus und der "Probenbühne 4", wo für den Nachwuchs gespielt wird, sind fließend.

So erlebt man hier also einen strahlenden Steuermann (Daniel Jenz, sonst Hirte im "Tristan"), eine kraftvolle Senta (Brit-Tone Müllertz, sonst Ortrud", und einen charmanten Daland (Lucas Singer von der Kölner Oper). So charmant ist dieser Daland, dass man ihm sogar ein bisschen Geldgier verzeiht. Im Original ist das Gold, das der Holländer ihm anbietet, ja eigentlich das Hauptargument, dem verfluchten Seefahrer die Tochter Senta zu überlassen. Hier wünscht sich der Kapitän zu Beginn eben einen Schatz, wie sich hier alle etwas wünschen: Der Steuermann eine Frau, der Holländer ebenso (plus Haus mit Garten) und Senta einen Mann (und zwar den Holländer mit seinem starähnlichen Mythos).

Einen sogenannten "Wunschstein" hatten zwei Zwerge hereingeschoben, die am Ende der Vorstellung für Selfies mit frisch gewonnenen Fans bereitstehen. Der Stein bildet nun das symbolische Zentrum der Aufführung: Die Akteure heften an ihn die Zettel mit ihren Wünschen (bei Wagner sind es "Sehnsüchte"), im Wagner'schen Sinn wird der Felsblock zu einem neuen Leitmotiv, das die Zersplitterung aufhält, die bei einer auf eine Stunde verkürzten Spieldauer nicht zu vermeiden ist. Gesprochene Passagen wechseln ab mit Mitmach-Aktionen für die Kinder und Opernausschnitten, bei denen es dann ganz herkömmlich zur Sache geht. Wie das in der Bearbeitung von Marko Zdralek präsentiert wird in pädagogisch portionierten Happen, ohne dass der große Rahmen der Oper verleugnet würde, das ist mustergültig.

Das Brandenburgische Staatsorchester aus Frankfurt an der Oder spielt unter der Leitung von Azis Sadikovic mit körperreichem, selbstbewussten Ton, die Sänger wechseln virtuos zwischen professionellem Singen und kindgerechtem Spielen und Sprechen. Die Begeisterung dabei ist so groß, dass die akustischen Grenzen der Probenbühne ins Wanken geraten. Die Lautstärke ist der einzige Schreck, den dieser Kinder-Holländer den zukünftigen Operngängern einjagen könnte.

Ein Schiff gibt es natürlich auch in der Kinderoper, anders als im Festspielhaus, bei den Großen. Was Dmitri Tcherniakov aber nicht hindert, diese Geschichte voller Schiffe in neuer Weise schlüssig zu erzählen. Auch im vierten Bayreuther Jahr wird diese Produktion nicht alt. Kommt man aus den drei ersten Wiederaufnahme-Abenden des "Rings", findet man sich in einer anderen Liga des Inszenierens wieder. Kaum entziehen kann man sich der Präzision und Schlüssigkeit, mit der Tcherniakov die Geschichte von zwei Außenseitern in einem klinkerbewehrten Kaff ins Bild setzt, von Senta und dem Holländer. Michael Volle als Holländer, völlig Herr über seine grandiosen stimmlichen Mittel, ist dabei eine durch und durch unheimliche Figur, unberechenbar in sich ruhend, urplötzlich ausbrechend, als er für traumatisierende Erlebnisse in seiner Kindheit Rache nimmt und zur Pistole greift. Elisabeth Teige als Senta lässt ihren ungemein weich eingefassten Sopran verströmen und bezeugt mit dem überwältigenden Strahlen ihrer Stimme die Sonderrolle, die sie in der Gesellschaft von Tscherniakovs Städtchen hat: Sie wagt noch zu träumen.

Georg Zeppenfeld singt und spielt einen Daland von hochbürgerlicher Eleganz, Matthew Newlin ist ein Steuermann, dessen kerniger Tenor von klagender Sehnsucht ebenso spricht wie von kraftvollem Abenteurertum, Eric Cutler singt einen Erik von sensibler Leidenschaft. Oksana Lyniv am Pult des Festspielorchesters lässt die Musik aufpeitschen und brodeln, entringt dem Orchester scharfe Kontraste in der Dynamik und sorgt zugleich für einen ganz ungehemmten, von großer klanglicher Schönheit geprägten Erzählfluss. Die Koordination mit dem starken Festspielchor gelingt ihr spielend, völlig zu Recht wird sie am Ende - wie sämtliche Beteiligte - vom Publikum bejubelt. Eine Aufführung, die sich nahtlos einfügt ins musikalisch exzellente Niveau der diesjährigen Bayreuther Wiederaufnahmen. CLEMENS HAUSTEIN

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