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Betty Literatur

Bewertungen

Insgesamt 91 Bewertungen
Bewertung vom 16.07.2025
Windstärke 17
Wahl, Caroline

Windstärke 17


sehr gut

Im zweiten Roman von Caroline Wahl erzählt dieses Mal Ida ihre Geschichte.
Nach dem Tod der Mutter verlässt sie die gemeinsame Wohnung, kämpft mit den Erinnerungen an ihre Kindheit, der Zeit mit ihrer Schwester, zu der sie den intensiven Kontakt verloren hat.
Ida hat furchtbare „Wutklumpen“ im Bauch, sie denkt über geplatzte Träume nach: „Aber sowieso scheint mein ganzes Leben eine Art Übergangslösung zu sein?“
Die Hilfsangebote der Schwester Tilda und deren Freund Viktor kann und will sie nicht annehmen
Ida flüchtet planlos und landet auf der Insel Rügen, die Erinnerungen verfolgen sie weiter und sie macht sich Vorwürfe, dass sie sich zu wenig um ihre alkoholabhängige Mutter gekümmert hat.
Bei Knut und Marianne, die sie auf der Insel kennenlernt, findet sie eine „Ersatzfamilie“, kommt zur Ruhe und beginnt, nachdem sie ihre inneren Kämpfe und Ängste überwunden hat, wieder an zu schreiben.
Auch Leif begegnet ihr auf der Insel, beide haben eine schwierige Vergangenheit, und trotzdem finden sie Vertrauen zueinander.
Ich mag die schönen und authentischen Alltagssituationen auf Rügen sowie die wortkargen Dialoge, die doch alles sagen. Ich mag die vorsichtige Annäherung zwischen Ida und Leif und ich mag auch Ida in ihrer selbstzerstörerischen Art, immer auf der Suche nach dem Limit und der Suche nach sich selbst.
Aber sie findet auch Ruhe und (Vergebung), indem sie sich um die kranke Marianne sorgt und kümmert.
Sprachlich finde ich den ersten Roman gelungener, experimenteller.
Aber der nicht neue „stream-of consciousness“-Erzählstil passt natürlich zu Ida.
Lesenswert. Mal wieder an einem Tag.

Bewertung vom 15.07.2025
22 Bahnen
Wahl, Caroline

22 Bahnen


ausgezeichnet

Dieses Buch ist zu Recht viel gelobt worden.
Caroline Wahl überzeugt inhaltlich und sprachlich.
Stakkatohaft beschreibt sie den Alltag der Protagonistin Tilda, die getrieben ist zwischen Studium, Schwimmtraining, der Arbeit an einer Supermarktkasse, Haushaltsaufgaben und der Sorge um ihre jüngere Schwester und die alkoholabhängige Mutter.
Die Freunde aus ihrer Jugendzeit sind weggezogen und nur selten in der Kleinstadt, die sie nicht verlassen kann. Sie findet schöne Momente in diesem trostlosen Leben und sie findet Viktor.
Fast pragmatisch, reiht sich das Leben dieser jungen Frau aneinander. Irgendwo hat sie ihre Emotionen vergraben. Sonst könnte sie nicht überleben.
Das Buch hat mich von Anfang an in seinen Sog gezogen, Melancholie und Traurigkeit werden immer wieder verdrängt, von der starken Energie dieser wunderbaren Protagonistin. Vielleicht hilft der Mathematikstudentin auch ihr analytischer Zahlenblick, den Alltag besser zu verstehen.
Besonders gelungen die sprachliche Aufreihung von Lebensmitteln an der Supermarktkasse mit deren Hilfe Tilda versucht, die Person, die einkauft, zu identifizieren.
Und ein wunderschönes Einblick in Phantasien und Träume der beiden Schwestern.
Caroline Wahl spielt mit der Sprache und erfindet sie neu. Die abgedroschene Metapher der „Schmetterlinge“ im Bauch, wird bei ihr zu Libellen, Drachen-Fliegen mit eisblauen Augen, die ihren Körper malträtieren.
Absolut lesenswert.

Bewertung vom 10.07.2025
BeGeistert von dir
Brandl, Sabine; Dankers, Julia

BeGeistert von dir


sehr gut

Liebe kann alles
Die beiden Reporterinnen Karin und Eva sind auf journalistischer Reise in einem kleinen Dorf im Bayrischen Wald, um den mysteriösen Tod vor 60 Jahren von Fanni Wimberger, einer verheirateten Frau, die eine lesbische Beziehung hatte, zu recherchieren.
Sie arbeiten für eine feministischen Zeitschrift, beide sind über dieses gemeinsame Projekt nicht begeistert, da sie sich nicht mögen.
Im Dorf begegnen ihnen Schweigen und Widerstand und Bedrohung.
Mit einer großen Prise Humor, wird erzählt, wie die beiden ungleichen Frauen recherchieren und zueinander finden. Der dialogische Erzählwechsel ist zwar kein neues literarisches Element, in diesem Fall aber durchaus sehr unterhaltsam, wie die beiden Frauen sich gegenseitig beschreiben und durchaus spannend, da hier tatsächlich 2 Autorinnen schreiben. Dieses Buch ist ausgesprochen unterhaltsam und witzig, herrlich authentisch das Dorfleben sowie die männliche Stammtischrunde.
Natürlich wird auch der „dubiose“ Tod aufgeklärt und nebenbei entdecken die beiden Journalistinnen ihre Anziehung zueinander. Es ist immer eine große Kunst, dass Gefühle, Liebe und Sex nicht kitschig verklärt werden. Das ist den Autorinnen gelungen, es ist ein schönes Spiel mit Sprache und Ironie.
Dass lesbische Liebe selbstverständlich ist, muss nicht erwähnt werden. Sie kommt in der Literatur noch viel zu selten vor.
Und die Botschaft des Buches: „Liebe kann alles“ ist sowieso universell.
Ein empfehlenswertes Buch.

Bewertung vom 19.06.2025
Wut und Liebe
Suter, Martin

Wut und Liebe


sehr gut

Wut und Liebe - Martin Suter
Das neue Buch von Martin Suter.
Der erfolglose Künstler Noah wird von seiner Freundin verlassen, obwohl sie ihn zwar liebt, sich jedoch ein Leben mit ihm nicht vorstellen kann, in dem sie das Geld verdient und er seiner Kunst nachgehen kann.
Er lernt die 65-jährige Betty kennen, deren Mann verstorben ist, weil er sich durch seinen Geschäftspartner hat ausnutzen lassen. Während die beiden viel verschiedenen Alkohol konsumieren, schlägt Betty vor, den Geschäftspartner zu beseitigen, das wäre ihr Einiges wert.
Noah verfolgt seinen Plan, wird immer wieder durch die Entwicklungen überrascht und am Ende kommt es dann alles ganz anders als erwartet.
Spannende Charaktere, viel Humor und Situationskomik, die auch durch das Abarbeiten sämtlicher Klischees über Alkohol konsumierende Menschen unterstützt wird. Der Roman bietet Einblick in die Abgründe der Künstler- und Galeristen-Szene, aber vor allem in die Durchtriebenheit und Berechnungsfähigkeit von Menschen, die andere für ihre Zwecke missbrauchen und dabei „fiktive Leben“ führen. So oberflächlich wie diese Menschen wirkt auch der Schreibstil von Suter, skizzenhafte Situationen, unangenehme Charaktere und zu viel Alkohol, natürlich gern Champagner, unerwartete Wendungen. Aber ich bin mir sicher, er hat es so gewollt.
Ich wurde bestens unterhalten.

Bewertung vom 04.05.2025
Wie du mich ansiehst
Lohmann, Eva

Wie du mich ansiehst


sehr gut

Die 40-jährige Johanna lebt ein geordnetes Leben mit ihrer 14-jährigen Tochter und ihrem Mann. Sie hadert mit den altersbedingten Veränderungen ihres Gesichts und beschließt, sich eine Falte beim Schönheitschirurgen behandeln zu lassen. Und dann kommen weitere Behandlungen hinzu, die letzte wenig erfolgreich, aber sehr sichtbar.
Und nun wird sie „gesehen“, allerdings mit dem erschreckten, entsetzten Gesicht ihrer Tochter und ihres Mannes.
Sie zieht sich in den Garten ihres Vaters zurück, den sie nach seinem Tod geerbt hat und findet Ruhe und inneren Frieden in der Arbeit in der Natur.
Die Themen: Älterwerden, weibliche Schönheitsideale, den Wunsch, gesehen zu werden, Mutter-Tochter-Beziehung sind nicht neu und auch nicht neu umgesetzt.
Trotzdem ist es ein lesenswertes Buch.

Bewertung vom 06.04.2025
Wild nach einem wilden Traum / Biographie einer Frau Bd.3
Schoch, Julia

Wild nach einem wilden Traum / Biographie einer Frau Bd.3


ausgezeichnet

Wild nach einem wilden Traum – Julia Schoch
„An die Liebe zu denken, sich in sie zu verbeißen, das ganze Leben nach ihr auszurichten, sich von ihr zugrunde richten zu lassen - was sollte verachtenswert daran sein?“
In einer Künstlerkolonie in den USA begegnet die Erzählerin „dem Katalanen“.
„Zu jener Zeit, die inzwischen Jahre zurückliegt und von der hier die Rede sein soll, wollte ich diesen Mann, den Katalanen, unbedingt. Dabei gab es doch schon einen in meinem Leben. Einen Mann, meine ich. Genauer gesagt: meinen Mann.“
Inspiriert durch die Begegnung mit ihm setzt sie sich mit ihrer Arbeit und ihren Ansprüchen als Schriftstellerin auseinander und schreibt ihre Geschichte über „den Soldaten“, der sie bereits als Jugendliche zum Schreiben ermuntert hat.
„Ich bin sicher, du schaffst es, bestimmt. Man muss wild danach sein. Wild nach einem wilden Traum.“
In wunderbaren, klugen Sätzen setzt sich die Erzählerin mit dem Phänomen der Liebe auseinander. „Manchmal habe ich den Eindruck, ich hätte alles im Leben so gemacht, en passant. Rasch fertig werden, um Zeit für das Eigentliche zu haben: den Wahn der Liebe.“ Auch die Faszination der sexuelle Begegnung findet in ihr eine eigen Sprache. „Wir taten es schnell, schnell und gründlich.“
Die Begegnung mit dem Katalanen, wirkt sich, trotz der kurzen Episode, auf ihr weiteres Leben aus. Sie erlebt „… eine Mischung aus hilflosem Verlangen, Sehnsucht und Wut.“
Das erinnernde Erzählen der Autorin, die sehr kluge Reflexionen ihres Handelns, dieser „glücklicher Irrtum“, nichts daran war falsch. Und so werden
Erinnerung und Erzählung Eins, verschmelzen, das ist für sie der Prozess des Schreibens.
Rückblickend ändert sich oft der Blick auf das Geschehene, auf Ursache und Wirkung.
Die Beziehung zwischen der Erzählerin und ihrem Mann wird distanzierter, jeder geht seinen Weg, viele Dinge bleiben unklar in der Erinnerung.
„Jeder für sich und jeder in eine andere Richtung begannen wir, wie an sehr langen Bändern über den Erdball zu wandern.“
Aber das Band bleibt bestehen.
Aus diesem Buch möchte ich ständig zitieren.
„Mehr als alles andere hat die Liebe dazu geführt, dass ich mein Leben als eine Geschichte wahrnehme.“
„Vermutlich ist sie genau dafür da, die Liebe. Nicht, damit sie ein Leben lang dauert - das würde wohl niemand erwarten -, sondern damit wir uns an sie erinnern, wenn sie nicht mehr da ist.“
„Es geht nicht um Verrat, nie. Man will etwas haben, das einem allein gehört. Und zugleich will man sein Leben mit jemandem teilen. Wie es aussieht, wollen manche Menschen alles. So verrückt ist das.“
„Und wie ich sie liebe, meine Irrtümer. All die wunderbaren, falschen Vorstellungen.“
Und ich möchte sagen: „Ja, genauso ist es!“
Danke für dieses wunderbare Buch, Julia Schoch.
Dieser Roman ist der 3. Teil ihrer Trilogie „Biographie einer Frau“.

Bewertung vom 10.03.2025
Humbi und Mohna auf der wilden Wiese
Lendl, Carina

Humbi und Mohna auf der wilden Wiese


ausgezeichnet

Humbi und Mohna auf der wilden Wiese
Es ist Frühling und die Tiere verlassen ihre Winterquartiere. So auch Humbi, die Steinhummelkönigin und ihre neue Freundin die Mohnbiene Mohna.
Gemeinsam erkunden sie die Umgebung und lernen neue Freunde kennen.
Doch die Idylle ist in Gefahr, denn die Trampler (Menschen) zerstören die Natur.
Ignaz, der Igel, ist weit rumgekommen und hat bereits Erfahrungen mit Tramplern. Er berät die Tiere, was zu tun ist.
Dieses Kinderbuch ist zum Vorlesen oder selber Lesen geeignet, und zeigt aus Sicht der vielen Tiere und Insekten auf der Wiese die Zerbrechlichkeit der Natur und die Bedeutung dieser kleinen Lebewesen.
Carina Lendl erzählt phantasievoll, liebevoll und witzig die Geschichte der Insektenfreundinnen, in einer Welt voller Farben und Blüten, die schwarz-weißen Illustrationen von Hannelore Demel-Lerchster bereichern den Text und laden zum Anmalen ein. Für Kinder ab 8 Jahren.

Bewertung vom 28.02.2025
Ich komme nicht zurück
Khayat, Rasha

Ich komme nicht zurück


sehr gut

„Was ist ein Leben wert, wenn niemand sich mit dir erinnert?“

Die Erzählerin erinnert sich an ihre Kindheit und die Freundschaft mit Zeyna und Cem, mit denen sie gemeinsam ihre Kindheit in einer Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet verbracht hat.
Es ist Ende der 80er Jahre, und wie selbstverständlich haben nicht nur die deutsche Hanna, der türkische Cem und die aus dem Libanon geflüchtete Zeyna Kontakt zueinander, auch ihre Eltern, bzw. Großeltern unterstützen sich gegenseitig.
Hanna wächst bei ihren Großeltern auf, Zeyna ist mit ihrem Vater geflüchtet. Beide haben ihre Mutter verloren.
Die beiden Freundinnen sind selber 12 Jahre alt, als Ende 1992 der Brandanschlag auf eine türkische Familie in Mölln durch rechtsextremistische Täter verübt wird, auch 2 Kinder sind unter den Opfern.
„Damals habe ich zum ersten Mal gespürt, dass keiner uns hier haben will, hast du (Zeyna) Jahre später mal gesagt.“
Das Leben im Ruhrgebiet ändert sich. Hanna erlebt die Angst und Ausgrenzung des türkischen Freundes und der libanesischen Freundin.
„Und dann fielen sie zusammen. In aller Stille.“
Die beiden Freundinnen erleben im Urlaub in Frankreich zusammen den Anschlag auf das World Trade Center in NY.
Die Wut der Menschen wendet sich gegen ihre ausländischen Mitbürger.
Zeyna verlässt die Siedlung und reist durch die Welt, sie dokumentiert Kriegs- und Fluchtfolgen der Menschen.
Aber, die Freunde bleiben füreinander da.
Und dann passiert ein Bruch, der dazu führt, dass der Kontakt zwischen den beiden Frauen endet.
„Ganze Bücher, ganze Bibliotheken könnte man füllen mit all den ungesagten Worten, den ungesagten Sätzen.“
Am Ende gelingt es der Erzählerin die Worte zu finden und sich von dem Ungesagten zu befreien.
Dieses Buch hat mich sehr berührt, die Freundschaft und Nähe der Menschen, die so selbstverständlich ist und so viel bedeutet. Die Einsamkeit und Trauer der Erzählerin um die verlorene Freundin sind spürbar, die Last, die sie mit sich trägt.
Rasha Khajat erzählt leise und eindringlich, sie nimmt uns mit in eine tiefe Verbundenheit zwischen 3 Menschen unterschiedlicher Herkunft und deren Familien. Diese Geschichte sollte es öfter geben.

Bewertung vom 08.02.2025
In einem Zug
Glattauer, Daniel

In einem Zug


sehr gut

In einem Zug - Daniel Glattauer
Der Liebesroman-Schriftsteller Eduard Brünhofer teilt sich auf seiner Zugfahrt von Wien nach München das Zugabteil mit einer „frühen mittelalten Frau“, die ihn rasch in einen Dialog verwickelt.
Und während seine Gedanken darum kreisen, die passenden Antworten zu geben oder ihre nächste Frage vorauszusehen, merkt er, dass er sich in einer ausweglosen Situation befindet: Sie fragt. Er antwortet. „Und sie giert nach Antworten. Nach meinen Antworten. Je intimer, desto besser. Sie setzt dabei das gesamte Areal bläulich schimmernden Moosgrüns ihrer Augen ein.“
Sie will alles über seine Vorstellung von der Liebe wissen, wie es ihm und seiner Frau gelungen ist, nach so vielen Ehejahren, ihre Liebe zu bewahren. Sie selber zweifelt an seinem Konzept, ihre Beziehungen verlaufen eher wenig erfolgreich. Im Moment befindet sie sich auf dem Weg zu ihrem Liebhaber, der aber verheiratet ist.
Der Autor, nicht mehr ganz jung, im Moment wenig erfolgreich mit seinen Schreibversuchen, ist geschmeichelt von dem Interesse der jüngeren, attraktiven Frau, die sich als Therapeutin vorstellt. Sie verbringen die 4 Stunden Zugfahrt in intensivem Austausch, unterstützt durch einige Minifläschchen Wein und Sekt aus dem Bordrestaurant.
Dieses Buch ist kein Liebesroman, sondern ein Roman über die Liebe.
Glattauer spielt mit Sprache, es ist ein kleines Kammerspiel, das er hier inszeniert.
Die humorvollen, selbstkritischen Zwischentöne des alternden Mannes, vielleicht auch des Autors, sind überaus überzeugend.
In den spielerische Dialogen zeigen beide Gesprächspartner ihre Gesichter und tauschen ernsthafte Gedanken aus. Und kann kommt noch, kurz vor München, der große Wendepunkt, kritische Stimmen sagen, völlig konstruiert und unrealistisch, ich sage, das ist das Recht der Literatur und des Autors. Dieser Autor betrachtet auch gern zum Schluss schon einmal kritisch aus Perspektive des Verlegers sein eigenes „Werk“.
Ein unterhaltsames Buch, das man „in einem Zug“ durchliest. Mir hat es sehr gefallen. (Auch der ethisch-unmoralische Exkurs des Autors über seinen Alkoholkonsum.)

Bewertung vom 03.02.2025
Eine Frau
Aleramo, Sibilla

Eine Frau


sehr gut

Eine Frau - Sibilla Aleramo

aus dem Italienischen von Ingrid Ickler
mit einem Nachwort von Elke Heidenreich
Der autobiografische Roman von Sibilla Aleramo wurde erstmals 1906 veröffentlicht, die Autorin gilt als Wegbereiterin des Feminismus in Italien.
Sibilla wächst als ältestes von 4 Kindern in durchaus freien und privilegierten Verhältnissen auf, sie genießt Bildung und verehrt ihren Vater, einen Naturwissenschaftler.
Durch den Umzug der Familie von Mailand nach Süditalien verändert sich das soziale Umfeld. Die Menschen in Süditalien halten an alten Traditionen fest, viele leben in einfachen Verhältnissen, es gibt kaum geistige Anregung für das junge Mädchen. Schon früh übernimmt sie Aufgaben in der Fabrik des Vaters.
Das Verhältnis der Eltern zueinander wird immer angespannter, die Mutter wird depressiv, der Vater wendet sich einer anderen Frau zu. (Vielleicht in anderer Reihenfolge)
In ihrer Einsamkeit und Suche nach Nähe:
„Ich wollte an mein Glück glauben, an meine Gegenwart und meine Zukunft, ich wollte die große Liebe finden, diese Liebe mit sechzehn Jahren, die für ein junges Mädchen die geheimnisvolle Poesie des Lebens verkörpert.“, lässt sie den Kontakt eines jungen Fabrikarbeiters zu, der dies ausnutzt und sich gewaltsam ihren Körper nimmt.
Sie geht die Ehe mit diesem Mann ein, der völlig unter ihrem Niveau ist und ihr aber seine Macht durch körperliche Gewalt beweist.
„Indem ich eine Verbindung mit einem Menschen eingegangen war, der mich unterdrückt und klein gemacht hatte, als ich jung und ungeschützt war, hatte ich geglaubt, damit der Natur, meinem Schicksal als Frau zu gehorchen.“
In der lieblosen Ehe wird ein Sohn geboren, der der jungen Frau Kraft und Halt gibt.
Und sie fängt an, sich mit gesellschaftspolitischen Themen und auch der Rolle der Frau zu beschäftigen, schonungslos, offen und ehrlich analysiert sie die Zustände der Gesellschaft und deren verlogene Moral.
„Das war mein Leben. Behandelt zu werden wie ein Gegenstand, der zu gefallen hatte, meine Seele war gefangen.“
Sie möchte ausbrechen aus diesem Leben, schafft es über viele Jahre nicht, sich von dem brutalen Ehemann zu trennen, weil sie dann auf ihr Kind verzichten müsste.
Sie ist erst 25 Jahre alt, als sie diese schwere Entscheidung trifft und ihr Kind nicht mehr sehen wird.
Dieser Roman ist der Hilferuf einer jungen Frau, die unter Lieblosigkeit, Ausbeutung, Einsamkeit und Gewalt in der Ehe leidet. Die große Offenheit, die für die Zeit ungewöhnlichen Gedanken einer Frau über Freiheit, die Rollen von Mann und Frau sowie Liebe und Sexualität sind beeindruckend.
Schonungslos analysiert sie schon früh ihre Situation, es ist ein langer, schwerer, schmerzhafter Prozess bis zu ihrer Befreiung.
Die konservativen, patriarchalischen Verhältnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Italien sind erschreckend und bleiben doch immer noch aktuell, überall in der Welt. Jeden Tag.